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ERNST MULLER
DER SOHAR UND
SEINE LEHRE
Der Seele meines Vaters
iMiiiiiiiHiiiiuiMMiiuiiiiiniJiniiiiiiiiiniiii|iiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiL
DER SOHAR
und
seine Lehre
Einleitung in die Gedankenwelt
der Kabbaldh
von
ERNST MÜLLER
1/
1920 I
R. LÖWIT VERLAG, WIEN-BERLIN
viiiinnMniiiiiiiiiijiiiiiiiiiiiiiiJijiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMiiiiiiiiiiiiiiiMiijiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiMtiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiiii~
Alle Redite, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
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LIBRARIES j
Copyright 1920 by R. Löwit Verlag, Wien-Berlin.
Drude der „özudsg", Wien. III. Rudengassc 11.
1486941
Vorwort.
Die vorliegende Einleitung in den Sohar ist das Resultat einer, aller-
dings durdi die Kriegsverhältnisse oft gestörten vorläufigen Soharlektüre.
Umsoweniger kann sie Anspruch darauf erhebeui einen an sidi sdiier
unendlidien Gegenstand audi nur annähernd ersdiopfen zu wollen. Den-
nodi hielt sich der Verfasser für berechtigt, einer diesbezüglichen Auf-
forderung Folge zu leisten, indem eine solche Einleitung dodi wohl
imstande sein mag, auf die bedeutenden Gedankengebilde der jüdisdien
Kabbalah die Aufmerksamkeit der Leser zu lenken. Eine Auswahl einzelner
Texte in einem größeren Rahmen, als dem dieses Bändcfaens, mag dann
diese Einleitung ergänzen.
Aus Anlaß der Veröffentlichung gedenke ich gerne jeder Anregung,
die mir — persönlidi oder literarisdi — bei dem Versuche zuteil ward,
in eine dem gegenwärtigen europäischen und audi dem gegenwärtigen
jüdisdien Geistesleben noch fremd erscheinende Geistessphäre tiefer
einzudringen. Dankbaren Herzens nenne idi insbesondere Rudolf
Steiner, der midi zuerst auf die verborgene Tatsadie weltumfassender
okkulter Wissenschaft gewiesen hat, Martin Buber, der midi den
verborgenen lebendigen Pulsschlag eines unterirdisdien geistigen Juden-
tums ahnen ließ, und schließlich Hugo Bergmann, mit dem gemeinsam
ich vor etwa sieben Jahren die ersten tastenden Versuche der Sohar-
lektüre unternahm.
Wien, 15. November 1919. — 22. Chesdiwan 5680.
Bronn ist Quell und Quell ist Bach
Jedes Übergänglidien,
Bach ist Strom und Strom ist Meer
All des Unvergänglichen.
Einleitung.
Der äußere Rahmen des Buches.
Sein Ursprung.
Es ist ein häufiges Scfaidcsal der großen Mensdiheitsbüdier, daß ihre
Entstehung für die geschichtliche Erinnerung sidi ins Dunkel verliert.
Selten und seltsam nur, wenn solcher Entstehung geradezu eine häßliche
Marke gegeben wird. Und dies gerade ist bei dem Buche, das in den
Kreisen des mystisclien Judentums mindestens neben Bibel und Talmud
gestellt wird, der Fall. Der mysteriöse Tatbestand ist folgender:
Der Sohar taucht ungefähr zu Ende des dreizehnten Jahrhunderts
in Spanien auf, von vornherein mit der Prätention mystischen Ursprungs
behaftet. Der Gelehrte und Kabbaiist Mose ben Schemtob de
Leon (1250 — 1305) verbreitet ihn als ein Werk des Rabbi Simon
ben Jochai, einer der größten talmudischen Autoritäten aus dem
zweiten nachchristlichen Jahrhundert, von dem schon die talmudische
Legende das Wunderbare berichtet, daß er, um den Verfolgungen der
Römer zu entgehen, mit seinem Sohne dreizehn Jahre in einer Höhle
verlebt und dort himmlische Geheimnisse empfangen habe, und in dessen
Namen audb sehr alte apokalyptische Sdiriften verbreitet wurden. Bis zu
den Tagen des Mose de Leon wird des Sohar in keinem Buche Erwähnung
getan. Hingegen erscheint er als neu gefundenes Werk zuerst bei Todros
Abulafia und Menachem Riccanati, weldie selbst noch Zeit-
genossen des Mose de Leon sind. Widersprechend und mit dem Glänze
des Wunders behaftet geben sidi die ersten Berichte über die Bekannt-
werdung des Buches. Abraham Zacuto, der zu Anfang des fünf-
zehnten Jahrhunderts in Konstantinopel lebte, berichtet* aus zweiter
Hand von einem gewissen Rabbi Isak aus Akko, der in Spanien
* Im Buche „Sefer Judiasm".
Mose de Leon und der Sohar.
auf seine Anfrage, wie der Sohar entstanden sei, verschiedenartige
Antworten erhalten habe. Unter anderem sei ihm erzählt worden, es
hätte Mose ben Nachman, der große zeitgenossische Gelehrte, die
von Simon ben Jochai stammende Handsdirift in Palästina gefunden und
nach Katalonien gesdiidct, von wo sie durch einen Sturmwind nach
Aragonien getragen wurde, um dem Mose de Leon in die Hände zu
fallen. Isak selbst staunte, in Palästina von den Jüngern des Nachmanides
nidits hierüber gehört zu haben. Und da selbstverständlidh nur Abschriften
des Sohar verbreitet waren, stellte er bei seiner Begegnung mit Mose
de Leon selbst an diesen das Verlangen, ihm das Urexemplar zu zeigen.
Mose jedoch starb auf dem Wege in seine Heimatstadt. Nadi seinem
Tode wandten sich nun zwei reiche Männer aus Avila an die Witwe
des Kabbalisten und boten ihr Schätze und — einen Schwiegersohn an,
wenn sie ihnen die alte Soharhandsdirift zeige. Darauf beteuerte die
Frau, dafi ein soldies Exemplar überhaupt nicht existiere, Mose de Leon
habe vielmehr das Ganze selbst niedergesdirieben und nur, um dem
Buche mehr Geltung und sich mehr Einkünfte zu yersdiaffen, dasselbe
jenem geheimnisvollen Urheber untergeschoben.
Seither ist der Streit um die Autorschaft des Sohar nidht erloschen.
In älterer Zeit handelte es sich nur einfadi um die Entscheidung zwischen
Mose de Leon und Simon ben Jochai. Die Kabbalisten, denen in diesem
Punkte audi die diristlichen Gelehrten folgten, vertraten mehr das hohe
Alter, die rabbinisdien Rationalisten mehr die Theorie der Fälschung.
Der erstere Standpunkt wurde in neuerer Zeit am entschiedensten von
David Luria* verfoditen, der letztere, nadi dem Beispiele Leo
de M o d e n a's und Elia del Medig o's, von Jakob Emden in
einer berühmt gewordenen Polemik mit Jonathan Eibenschütz """
und am sdiroffsten vom Geschichtsschreiber Grätz, der den Sohar
rundwegs für eine plumpe Fälschung erklärt. Einwände gegen das hohe
Alter des Budies als solchen waren unschwer beizubringen. Abgesehen
von seinem plötzlichen Auftaudien und der mysteriösen Fälsdiungs-
geschidite, sdiienen Komposition, Stil und Inhalt Momente aufzuweisen,
welche mit einer Abfassung in talmudisdier Zeit in Widerspruch stehen.
Hiezu gehören gelegentliche Anachronismen, wie die mystische Deutung
"* In dessen Sdirift: .Kadmuth Sefer ha-Sohar" (Der Ursprung- des Sohar-
buches).
** Siehe namentlich des Ersteren Sdirift: »Mitpachath Soferim".
Die Fraye der Autoradiaft.
religiöser Bräuche, die erst von späteren rabbinisdien Autoritäten ein-
geführt wurden, oder gar der massoretisdien hebräisdien Interpunktations-
zeidien, Anspielungen auf die Kreuzzüge, beziehungsweise die Herrsdiaft
des Islams, sowie die teilweise fast wörtlidie Übereinstimmung mancher
Stellen mit soldien aus anderen Werken, namentlich des Mose de
Leon selbst.*
Allein gerade die kritische Forschung mußte auch wieder dahin führen,
die Frage überhaupt nidit auf ein glattes Ja oder Nein zu stellen. Denn
die kompositorische Mannigfaltigkeit des Budies läßt Bestandteile von
schwer ardiaistischem Stil, weldie durchaus verwandten Stüdcen älterer
talmudisdier Zeit entsprecJien, unterscheiden von dem im Allgemeinen
breitgesponnenen, aber doch zum Beispiel dem Talmud gegenüber viel
einheitlicheren Hauptzuge der Darstellung und von offenbar späteren
Zusätzen. So machten sich wieder versdiiedene Theorien geltend. Adolf
Franck hält einige Stüdce für uralt und dem Wesen nadi für persisdies
Lehngut, Landauer nimmt den Sohar für ein Werk Abraham
Abulafias, einer der sonderbarsten Kabbalistengestalten gleichfalls des
dreizehnten Jahrhunderts, Jellinek für ein Sammelwerk aus der Zeit
des Mose de Leon, an dessen Abfassung dieser selbst den Hauptanteil
gehabt hätte, während H. Joel zwischen dem Alter der Lehre und dem
ihrer vorliegenden Form eine strenge Scheidung macht.
Aber manche dieser Argumente, weldie richtig sind, solange der Sohar
von vorneherein nach Art eines spezifischen Literäturwerks betrachtet
wird, berücksichtigen doch zu wenig zwei Gesichtspunkte, von denen der
eine die ganze Art der Abfassung solcher Bücher, der andere ihren
wesentlichen Inhalt betrifft. Schon nach der Auffassung des Buches
nSchalscheleth ha-Kabbalah" (die Kette der Überlieferung) kann man beim
Sohar an eine ähnlidie Entstehungsweise denken wie beim Talmud, der
vor der Niedersdirift durch Jahrhunderte mündliches Überlieferungsgut
gewesen war, das von Gesdiledit/ zu Geschlecht an Umfang anschwoll;
und wenn auch in den der talmudisdien folgenden Zeitepodien die Form
der Überlieferung im Allgemeinen die schriftliche ist, so mag der
Charakter einer umfassenden Geheimlehre, deren Verbreitung im
Talmud nur in den Sdiranken äußerster Vorsidit gestattet wird, dasjenige
Überlieferungsgut, das uns im Soharbuche vorliegt, dodi länger von
* Siehe Adolf Jellinek: Moses ben Schem-Tob de Leon und sein Ver-
hältnis ziim Sohar. Leipzig- 1851.
8 GHederungf, Ausgaben' und Kommentare.
sdiriftlidier Fixierung ferngehalten haben, weldie dann in dier Tat erst
durch Mose de Leon oder in seinem Kreise erfolgt sein mag. Eine
völlige Verkennung jedodi der Bedeutung dieses Buches liegt vor, wenn
dasselbe in seinem ganzen Umfang oder auch nur in seinem Hauptteile
gleidbsam als willkürlidie Erfindung einem begabten und noch dazu
einem audh geschäftsmännisch begabten Autor aus einem späten Jahr-
hundiert zugeschrieben wird, es müßte denn dieser Mann, auch bei
Benützung der damals vorliegenden kabbalistisdien Literatur, selbst von
jenem Genius beseelt gewesen sein, in dessen Glänze er seinerseits den
legendenhaften Urheber erblidct.
Gliederung, Ausgaben und Kommentare.
Der Name des Buches.
Das Soharwerk stellt sidi ebensowenig wie der Talmud, als einheitliches
Buch dar. Es zerfällt vielmehr in folgende Hauptteile: den eigentlichen
„Sohar", der die äußere Form eines fortlaufenden, nach den Wochen-
abscfanitten gegliederten Pentateudikommentars trägt; einige uralte Partien,
welche die geheimnisvollen Titel führen : Idra rabä (die große Versammlung),
Idra suta (die kleine Versammlung) und Sifra di-Zeniutha (Buch des
Geheimnisses) und in den üblichen Ausgaben einzelnen Soharabschnitten
angeschlossen sind; ferner das Sefer Hedialoth (Buch der himmlischen
Paläste) und Soharstüdce zum Hohen Liede, zu den Büdiern Ruth und
Klagelieder, sodann verschiedene Erweiterungen und Erläuterungen, wie die
Tikkunim (Ergänzungen), ^ Midrasch ha-neelam (der verborgene Midrosch),
Ra'aja Mehimna (der treue Hirte) und Sithre-Thorah (Geheimnisse der Lehre).
Gedrudkt wurde der Sohar zum erstenmale 1558 in Cremona und
fast gleichzeitig auch in Mantua. Unter den zahlreichen späteren Ausgaben
sind die Lubliner, Amsterdamer, Konstantinopler und aus neuerer Zeit die
Wilnaer die bekanntesten.
Selbstverständlich schließt sidi an den Sohar eine reidie exegetisdie
Literatur. Zu den bedeutendsten kommentierenden Werken gehören mehrere
des Bär ben Petachjah, »Emek ha-Meledi" von Naftali Herz, »Schaar
Übersetzungen. Der Name »Sohar*
ha-Scfaamajim" von Abraham Herera und „Chessed le- Abraham" von
Abraham Asulai, doch gibt es keinen einzigen den Text durchwegs
begleitenden Kommentar. Höchst dürftig ist auch die Zahl der Ober-
setzungen. Zunächst kommen hier nur christlich-lateinische Übertragungen
einzelner Partien in Betracht, namentlich der messianistisdien Stellen,
sowie der „Idroth" (letztere in Knorr v. Rosenrot h's „Cabbala
denudata"). In deutscher Sprache gibt es gleichfalls nur einzelne Ober-
setzungsproben, zumeist nur als Stellenbelege in den wenigen Büdiern
und Aufsätzen, welche die Kabbalah überhaupt behandeln, und ebenso
im Englischen. Nur ins Französische erscheint der ganze Sohar (ohne die
meisten Ergänzungen und mit häufigen Kürzungen) übertragen, und zwar
von Jean de Pauly, in einer Ausgabe von gezählten Exemplaren. Schließ-
lich sei eine volkstümliche jüdisch-deutsche Bearbeitung aus dem
17. Jahrhundert („Nachlath Zewi") erwähnt, sowie Fragmente einer alten
hebräischen Übersetzung, die sich unediert in der Münchner Staats-
bibliothek befinden sollen.
Der Name „Sohar" bedeutet Lichtglanz, mit einem feinen Anklang
an Obersinnliches*, und koinmt in der Bibel als solcher nur zweimal
vor: in der Thronwagenvision des Ezechiel und am Ende der Daniel-
prophetien. Im Anschluß an die zweiterwähnte Stelle (Daniel cap. 12,
V. 3)** erscheint er in den ersten Seiten des Soharbuches selbst an der
Spitze der Erörterungen.
Ein Blick auf die Entwicklung
der kabbalistischen Literatur bis zum
Chassidismus.
Es liegt im Wesen der mystischen Tradition des Judentums, daß diese
keinen eigentlichen historischen Anfang besitzt. Sondern unmerklich sind
die Obergänge von ältester, ja biblischer, ursprünglicher Geistesströmung
bis zu jenen vergleichsweise späten Abzweigungen, die selber nur als
* Belcanntlich hat der junghebräische Dichter B i a li k einem seiner schönsten
Gedichte diesen Namen zur Oberschrift gegeben.
** In der ältesten gedruckten Soharausgabe bildet dieser Bibelvers den
ersten des ganzen Buches.
10 Ältere mystische Strömungen.
„Überlieferung" gelten wollen. So führt ein Weg einerseits von den
letzten und in gewissem Sinne höchsten Etappen des Prophetentums
(Deuterojesaia, Ezediiel, Sediarja, Maleachi, Daniel) zu rein apokalyp-
tischen Schöpfungen (z. B. dem vierten Buche Esra, den Büdiern Henoch
und Baruch) und andrerseits von diesen und der bei Philo noch ganz
jüdisdien Gnosis, weldie beiden Strömungen auch wieder ins Ur-
diristentum einmünden, auf jüdisdier Seite über die mystischen Elemente
der Agada, des talmudischen Sagen- und Legendenstoffes, in die eigentliche
Kabbalah hinein.
Die Hauptgegenstände der ältesten kabbalistischen Forschung bilden
zunädist der biblische Schöpf ungsberidlit (MaassehBereschith) und die
Vision des göttlichen Thronwagens bei Ezechiel (Maasseh Merkabah),
weldie sich zur mystisdien Kosmogonie (der Lehre der Weltentstehung)
und Theosophie (der Lehre von den göttlichen Urgründen des Kosmos)
erweitern. Außerdem enthalten schon uralte Büdier und Fragmente die
Lehre vonp Gottmenschen, häufig „Metatron" genannt, Engelsvisionen
und von solchen herrührende Prophezeiungen, welche bis auf Adam
zurüdcverlegt werden (wie im Buche „Rasiel"), und so groteske Alle-
gorien wie jene Schrift, weldie die Masse der göttlichen Herrlidikeit
berechnet. Die Krönung jenes Literaturzweiges aber bildet das „Buch
Jezirah", welches, schon im jerusalemitischen Talmud erwähnt, in ge-
drängtester Form, an Zahlen, Buchstaben und die vier Elemente an-
knüpfend, die Grundzüge der ganzen Kabbalah enthält.
Nur ganz allmählich treten übrigens die vorher strenge verborgen
gehaltenen Lehren in literarische Erscheinung, und die verschiedenen
Seiten derselben gelangen in verschiedenen Richtungen, welche aber
doch nur in wenigen Namen, Handschriften und Büdiern erhalten sind,
zur Ausbildung: so die Budistaben- und Zahlenmystik besonders in
Deutsdiland (Jehuda ha-Chassid aus Regensburg und E 1 e a s a r
Rokeach aus Worms), die Lehren von den das Urgöttliche mit dem
Menschenreich verbindenden vier Welten und zehn Sphären namentlich
in Südfrankreich (Abraham ben David und sein Sohn Isak der
Blinde, ein Kreis, aus welchem aas Buch „Bahir" hervorgegangen ist), die
mehr philosophisdien Ausgestaltungen in Spanien (Abraham Abulafia,
Josef ben Abraham Gikatilia, das Buch „Maaredieth Elohuth"), zur
spanisch-jüdisdien Religionsphilosophie in ein Verhältnis des Gegensatzes
und doch audi mannigfacher Befruchtung tretend. So erscheinen Abraham
i b n Esra und namentlich Mose ben Nachman und unter den
Theoretisdie und praktisdie Kabbalah. 11
großen Diditern vor allem Salomo ibn Gabirol als unmittelbare
Vertreter kabbalistischer Denkweise auf philosophischem, exegetisdiem,
mäthematisdiem und diditerisdiem Gebiete. Es ist übrigens eine eigen-
artige Erscheinung der jüdischen Geistesgeschidite, daß innerhalb der-
selben nach entgegengesetzter Richtung das mystisdie und das ratio-
nalistisdie Element in sehr nahen Zeiträumen zur höchsten Entfaltung
gelangen, so im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, der Epoche des
Maimonides und des Sohar, und in neuerer Zeit wiederum im Beginne
des Chassidismus und der Mendelssohnschen Aufklärung.
Insoferne nun die erwähnten Richtungen auf eine Durdiforsdhiung der
Welt- und Menschengeheimnisse hinzielen, bilden sie den Gegenstand
der sogenannten „theor'e tischen Kabbalah" (Kabbalah
i j u n i t h). Aber selbstverständlich erscheint schon innerhalb dieser das
Moment der Erkenntnis selbst gebunden an ein tieferes Erfühlen der
Weltzusammenhänge und an die Gesinnung einer durch den Hinblidk
auf den ganzen Kosmos vertieften Verantwortung für das menschliche
Handein. In Berührung mit den ewigen Kräften des Kosmos rückt die
menschliche Tat unmittelbar in die Gebiete höherer Weihe und ge-
läuterter Madit. Die Erforschung der mystisch bestimmten Tat nun,
welche mit der Betätigung selbst nahezu zusammenfällt, bildet den
Gegenstand der „praktischen Kabbalah" (Kabbalah maassith),
die in einiger Selbständigkeit allerdings vor allem erst in späterer Zeit
zur Entwicklung gelangt.
Die verschiedenartigen Strömungen münden nun zu Ende des drei-
zehnten Jahrhunderts im „Sohar" zusammen, der in der Folgezeit
für das mystisdie Judentum gleich hohe Bedeutung erlangt hat wie die
Bibel für das gesamte und der Talmud für das religionsgesetzliche
Judentum.
An die Kodifizierung des Soharbuches sdiließt sich die kabbalistische
Literatur der folgenden Jahrhunderte /zunächst in ähnlicher Weise wie die
rabbinische Literatur an den Talmud. Außer Ergänzungen und Kommen-
tierungen zum Sohar entstehen soldie Schriften, weldie in direkter An-
lehnung an den Sohar oder nach seiner Methode oder in seinem Geiste
versdiiedene Seiten des jüdischen Religionslebens behandeln. So enthält
das Buch Menadiem Riccanati's : „Ta'ame ha-Mizwoth" (Sinn der Gebote)
eine kabbalistische Auslegung des jüdischen Ritualgesetzes, in ähnlidiem
Geiste werden Bibelkommentare und Deutungen der Gebete verfaßt,
daneben auch polemische Schriften gegen die Philosophie.
8 Gliederung, Ausgaben und Kommentare.
schriftlidier Fixierung ferngehalten haben, welche dann in der Tat erst
durdi Mose de Leon oder in seinem Kreise erfolgt sein mag. Eine
völlige Verkennung jedoch der Bedeutung dieses Budies liegt vor, wenn
dasselbe in seinem ganzen Umfang oder auch nur in seinem Hauptteile
gleidisam als willkürliche Erfindung einem begabten und noch dazu
einem auch gesdiäftsmännisdi begabten Autor aus einem späten Jahr*
hundert zugeschrieben wird, es müßte denn dieser Mann, audi bei
Benützung der damals vorliegenden kabbalistischen Literatur, selbst von
jenem Genius beseelt gewesen sein, in dessen Glänze er seinerseits den
legendenhaften Urheber erblidct»
Gliederung, Ausgaben und Kommentare.
Der Name des Buches.
Das Soharwerk stellt sich ebensowenig wie der Talmud, als einheitlidies
Budi dar. Es zerfällt vielmehr in folgende Hauptteile: den eigentlidien
„Sohar", der die äußere Form eines fortlaufenden, nach den Wochen-
abschnitten gegliederten Pentateuchkommentars trägt; einige uralte Partien,
welche die geheimnisvollen Titel führen : Idra raba (die große Versammlung),
Idra suta (die kleine Versammlung) und Sifra di-Zeniutha (Buch des
Geheimnisses) und in den üblichen Ausgaben einzelnen Soharabsdinitten
angeschlossen sind; ferner das Sefer Hechaloth (Buch der himmlischen
Paläste) und Soharstüdce zum Hohen Liede, zu den Büchern Ruth und
Klagelieder, sodann verschiedene Erweiterungen und Erläuterungen, wie die
Tikkunim (Ergänzungen), Midrasch ha-neelam (der verborgene Midrosch),
Ra'aja Mehimna (der treue Hirte) und Sithre-Thorah (Geheimnisse der Lehre).
Gedruckt wurde der Sohar zum erstenmale 1558 in Cremona und
fast gleichzeitig auch in Mantua. Unter den zahlreichen späteren Ausgaben
sind die Lubliner, Amsterdamer, Konstantinopler und aus neuerer Zeit die
Wilnaer die bekanntesten.
Selbstverständlich sdiUeßt sich an den Sohar eine reiche exegetische
Literatur. Zu den bedeutendsten kommentierenden Werken gehören mehrere
des Bär ben Petachjah, »Emek ha-Melech" von Naftali Herz, „Schaar
Übersetzungen. Per Name »Sohar*.
ha-Sdiamajim" von Abraham Herera und „Chessed le- Abraham" von
Abraham Asulai, dodi gibt es keinen einzigen den Text durchwegs
begleitenden Kommentar. Hödist dürftig ist auch die Zahl der Über-
setzungen. Zunächst kommen hier nur christlich-lateinische Übertragungen
einzelner Partien in Betracht, namentlich der messianistischen Stellen,
sowie der „Idroth" (letztere in Knorr v. Rosenrot h's „Cabbala
denudata"). In deutscher Spradie gibt es gleichfalls nur einzelne Über-
setzungsproben, zumeist nur als Stellenbelege in den wenigen Büchern
und Aufsätzen, welche die Kabbalah überhaupt behandeln, und ebenso
im Englischen. Nur ins Französische erscheint der ganze Sohar (ohne die
meisten Ergänzungen und mit häufigen Kürzungen) übertragen, und zwar
von Jean de Pauly, in einer Ausgabe von gezählten Exemplaren. Schließ-
lich sei eine volkstümliche jüdisch-deutsche Bearbeitung aus dem
17. Jahrhundert („Nachlath Zewi") erwähnt, sowie Fragmente einer alten
hebräischen Übersetzung, die sich unediert in der Münchner Staats-
bibliothek befinden sollen.
Der Name „Sohar" bedeutet Lichtglanz, mit einem feinen Anklang
an Übersinnliches*, und kommt in der Bibel als solcher nur zweimal
vor: in der Thronwagenvision des Ezediiel und am Ende der Daniel-
prophetien. Im Anschluß an die zweiterwähnte Stelle (Daniel cap. 12,
V. 3)** ersdieint er in den ersten Seiten des Soharbuches selbst an der
Spitze der Erörterungen.
Ein Blick auf die Entwicklung
der kabbalistischen Literatur bis zum
Chassidismus.
Es liegt im Wesen der mystischen Tradition des Judentums, daß diese
keinen eigentlichen historischen Anfang besitzt. Sondern unmerklich sind
die Übergänge von ältester, ja biblischer, ursprünglicher Geistesströmung
bis zu jenen vergleichsweise späten Abzweigungen, die selber nur als
* Bekanntlich hat der junghebräische Dichter B i a li k einem seiner schönsten
Gedichte diesen Namen zur Überschrift gegeben.
** In der ältesten gedruckten Soharausgabe bildet diesier Bibelvers den
ersten des ganzen Buches.
10 Ältere mystische Strömungen. ■
„Überlieferung" gelten wollen. So führt ein Weg einerseits von den
letzten und in gewissem Sinne höchsten Etappen des Prophetentums
(Deuterojesaia, Ezechiel, Sedharja, Maleachi, Daniel) zu rein apokalyp-
tischen Schöpfungen (z. B. dem vierten Buche Esra, den Büchern Henodi
und Baruch) und andrerseits von diesen und der bei Philo noch ganz
jüdischen Gnosis, welche beiden Strömungen auch wieder ins Ur-
diristentum einmünden, auf jüdischer Seite über die mystisdien Elemente
der Agada, des talmudisdien Sagen- und Legendenstoffes, in die eigentliche
Kabbalah hinein.
Die Hauptgegenstände der ältesten kabbalistischen Forschung bilden
zunächst der biblische Sdiöpfungsbericht (Ma'asseh Bereschith) und die
Vision des göttlichen Thronwagens bei Ezechiel (Maasseh Merkabah),
welche sich zur mystischen Kosmogonie (der Lehre der Weltentstehung)
und Theosophie (der Lehre von den göttlichen Urgründen des Kosmos)
erweitern. Außerdem enthalten schon uralte Bücher und Fragmente die
Lehre voip Gottmensdien, häufig „Metatron" genannt, Engelsvisionen
und von soldien herrührende Prophezeiungen, welche bis auf Adam
zurückverlegt werden (wie im Budie „Rasiel"), und so groteske Alle-
gorien wie jene Schrift, weldie die Masse der göttlichen Herrlichkeit
berechnet. Die Krönung jenes Literaturzweiges aber bildet das „Buch
Jezirah", welches, schon im jerusalemitisdien Talmud erwähnt, in ge-
drängtester Form, an Zahlen, Buchstaben und die vier Elemente an-
knüpfend, die Grundzüge der ganzen Kabbalah enthält.
Nur ganz allmählich treten übrigens die vorher strenge verborgen
gehaltenen Lehren in literarische Erscheinung, und die verschiedenen
Seiten derselben gelangen in versdiiedenen Richtungen, welche aber
doch nur in wenigen Namen, Handschriften und Büdiern erhalten sind,
zur Ausbildung: so die Buchstaben- und Zahlenmystik besonders in
Deutschland (Jehuda ha-Chassid aus Regensburg und E 1 e a s a r
R o k e a c h aus Worms), die Lehren von den das Urgöttliche mit dem
Menschenreich verbindenden vier Welten und zehn Sphären namentlich
in Südfrankreich (Abraham ben David und sein Sohn Isak der
Blinde, ein Kreis, aus welchem das Budi „Bahir" hervorgegangen ist), die
mehr philosophischen Ausgestaltungen in Spanien (Abraham Abulafia,
Josef ben Abraham Gikatilia, das Buch „Ma'arecheth Elohuth"), zur
spanisch-jüdischen Religionsphilosophie in ein Verhältnis des Gegensatzes
und doch audi mannigfacher Befruchtung tretend. So ersdieinen Abraham
i b n E s r a und namentlich Mose ben Nachman und unter den
, Theoretisdie und praktisdie Kabbalah. 11
großen Diditern vor allem Salomo ibn Gabirol als unmittelbare
Vertreter kabbalistisdier Denkweise auf philosophisdiem, exegetischem,
mäthematisdiem und dichterisdiem Gebiete. Es ist übrigens eine eigen-
artige Erscheinung der jüdischen Geistesgeschichte, daß innerhalb der-
selben nadi entgegengesetzter Richtung das mystische und das ratio-
nalistische Element in sehr nahen Zeiträumen zur höchsten Entfaltung
gelangen, so im zwölften und dreizehnten Jahrhundert, der Epoche des
Maimonides und des Sohar, und in neuerer Zeit wiederum im Beginne
des Chassidismus und der Mendelssohnschen Aufklärung.
Insoferne nun die erwähnten Riditungen auf eine Durchforschung der
Welt- und Mensdiengeheimnisse hinzielen, bilden sie den Gegenstand
der sogenannten „theor'e tischen Kabbalah" (Kabbalah
i j u n i t h). Aber selbstverständlich erscheint sdion innerhalb dieser das
Moment der Erkenntnis selbst gebunden an ein tieferes Erfühlen der
Weltzusammenhänge und an die Gesinnung einer durch den Hinblick
auf den ganzen Kosmos vertieften Verantwortung für das menschliche
Handeln. In Berührung mit den ewigen Kräften des Kosmos rüdct die
mensdilidie Tat unmittelbar in die Gebiete höherer Weihe und ge-
läuterter Macht. Die Erforschung der mystisch bestimmten Tat nun,
welche mit der Betätigung selbst nahezu zusammenfällt, bildet den
Gegenstand der „praktischen Kabbalah" (Kabbalah ma'assith),
die in einiger Selbständigkeit allerdings vor allem erst in späterer Zeit
zur Entwidklung gelangt.
Die verschiedenartigen Strömungen münden nun zu Ende des drei-
zehnten Jahrhunderts im „Sohar" zusammen, der in der Folgezeit
für das mystisdie Judentum gleich hohe Bedeutung erlangt hat wie die
Bibel für das gesamte und der Talmud für das religionsgesetzliche
Judentum.
An die Kodifizierung des Soharbuches schließt sidi die kabbalistische
Literatur der folgenden Jahrhunderte zunächst in ähnlicher Weise wie die
rabbinische Literatur an den Talmud. Außer Ergänzungen und Kommen-
tierungen zum Sohar entstehen solche Schriften, welche in direkter An-
lehnung an den Sohar oder nach seiner Methode oder in seinem Geiste
versdiiedene Seiten des jüdisdien Religionslebens behandeln. So enthält
das Buch Menadiem Riccanati's : „Ta'ame ha-Mizwoth" (Sinn der Gebote)
eine kabbalistische Auslegung des jüdischen Ritualgesetzes, in ähnlidiem
Geiste werden Bibelkommentare und Deutungen der Gebete verfaßt,
daneben audi polemische Schriften gegen die Philosophie.
12 Die jüdische Mystik nach Kodifizierung des Sohar.
Aber tiefer als die literarische zeigt sich die innere Entwicklung der
jüdischen Mystik, welche an einem Wendepunkte der jüdischen Geschidite
über die Vollendung der theoretischen Kabbalah weitergeht. Die letztere
hatte zuletzt ihre Hauptstätte in Spanien gefunden. Nadi dem grausamen
Abschluß der spanisch-jüdischen Blütezeit findet sie eine Zufludit in
Palästina, namentlich in der malerischen Höhenstadt Safet, von wo kabba-
listische Volkstradition die Ankunft des Messias erwartet. Einen neuen
Quellstrom jedodi der jüdischen Mystik bezeichnen die Namen dieses
Kreises: Mose Kordovero, Isak Luria (1533 — 72), der »heilige
Löwe" zubenannt, und dessen Schüler Chajim Vital. Diese letzteren
beiden Männer sind es, an welchen sich der Wunderglanz der Legende
erneuert. Isak Luria lehrte bloß mündlich wie die großen Meister des
religiösen Lebens, doch wurde seine Lehre von Chajim Vital in dessen
Hauptwerk: „Ez Chajim" (Lebensbaum) schriftlich niedergelegt und
dann durch zahlreidie Jünger und Anhänger, wie Israel Saruk,
Abraham Asulai, Jakob Zemach und Nathan Spiro, nach
allen Ländern verbreitet. Die bedeutsame Wendung, welche von jenem
Kreise ausging, bestand, abgesehen von einer Neugestaltung der Schöpfungs-
lehre durch den eigentümlichen Begriff des „Zimzum" oder der konzen-
trativen Raumesschöpfung, vor allem in der Betonung der praktischen
Seite der Mystik, worunter aber nicht in erster Linie jene magischen
Momente zu verstehen sind, die schon längst früher auf heimliche Weise
gepflegt worden waren, sondern die enge Durdidringung aller religiösen
und aller Lebenstat überhaupt mit innerster mystischer Intention. Heilig-
keit für die Erlesenen, Frömmigkeit für das Volk bilden in wesentlich
asketischer Färbung die neuverstärkten Ideale, hinter denen mächtiger als
vordem auf düsteren Hintergründen des Volkssdiidcsals die Hoffnungen
auf den Messias wieder aufleuchten, dessen Ankunft durdi menschliches
Verhalten besdileunigt werden könne. Überhaupt drang jetzt die Kabbalah,
die ehedem esoterische Wissenschaft gewesen war, als Lebens- und Ritual-
lehre tief in das Volk, und seine rabbinischen Autoritäten konnten sich
immer weniger ihrem Einflüsse entziehen. Dies geschah namentlich in
Italien und in Polen, wohin die alt-neue Lehre durch eifrige Anhänger
verbreitet wurde. Zahlreiche Namen derselben sind uns aus diesen
Zeiten überliefert und zahlreiche Werke erhalten. Erwähnt seien
Mathatias ben Salomon aus Delacrut, Simson aus
Ostropolie, Menachem Asarjo di Fano, Mose Zacuto,
Abraham Herera und Jesaia Hurwitz, der Verfasser des
Jüdische Volksmystik und Chassidismus, 13
weitverbreiteten enzyklopädischen Werkes „Sdi'ne Luchoth ha-Berith"
(Die zwei Bundestafeln). In der Atmosphäre der lurianischen Mystik
konnten aber auch jene ekstatischen Stimmungen erblühen, welche einer-
seits in der Volksbewegung des Sabbatianismus und anderseits auf viel
geläuterterer Stufe in der mißglückten Palästinawanderung der Gruppe
des Jeiiuda hä-Chassid zu tragischen Enttäuschungen führten.
Der kühne Versuch, das Volksleben selber in die Bahnen der mysti-
schen Richtung zu zwingen, bildete aber andrerseits die Vorstufe des
Chassidismus, für dessen Geschichte und innere Charakteristik hier
auf die Einleitungen M a r t i n B u b e r's * verwiesen sei. Der Chassidismus
stellt den Versuch dar, eine bis dahin an strenge Religionsgesetzlichkeit
gebundene Volksmystik vom religiösen Formalismus und die Mystik selbst
von allen äußerlichen Bindungen des Wissens und WoUens zu befreien. Auf
anderem Wege als bis dahin wird Erlösung des religiösen Grundtriebes
angestrebt: durch ein Zurückgehen auf schlichte Volksfrömmigkeit und
ein innerlich beglücktes Gottdienen des einzelnen Menschen.
* Siehe auch das jüngsterschienene Werk S. A. Horodezky's: Religiöse
Strömungen im Judentum. Mit besonderer Berücksichtigung des Chassidismus
(Bern— Leipzig 1920).
Aus der Lehre des Sohar.
Das Gotteswerk.
In der Beziehung auf die „letzten Fragen" unterscheiden sich von
allen philosophisdien die mystisch-religiösen Systeme durdi eine gewisse
ehrfürchtige Distanz vor dem Unfaßbaren und Unsagbaren, welche hievon
nur in Bildern und Gleichnissen zu reden gestattet, die sidi aber zugleidi
mit machtvollerer Näherung aus gewöhnlichen Ding- und Begriffssphären
an das Geheimnisvoll-Wesenhafte verbinden.
Man kann in der Sprache der Mystik von einem „Letzten" überhaupt nicht
spredien. Auch der Kabbalah sind die Begriffe : „Sein", „Substanz", ja selbst
„Gott" als Bezeichnungen für dieses Letzte fremd. Seine einzig mögliche
Bestimmung ist die Negation. Über allen nennbaren Kategorien des Daseins
steht nur das „Ejn-Soph" (das Unendliche) oder „Ajin" (Nichts). Es
ist noch nidit Anfang dieses Seins, sondern auch selbst über allen Anfang
erhaben. So wird es gelegentlich „Anfang und nicht Anfang" genannt. Un-
geschieden und ewig gesdiieden zugleich steht es jenseits aller Bestimmungen
und doch ersdieint i n ihm ohne erste Begrenzung der Ursprung des Daseins,
welcher in einem über die Zeit hinausreidienden Aspekte auch Urbeginn der
Sdiöpfung* ist.
Letzte Höhe der Erkennbarkeit kann indes erst werden, was in die Kategorie
des Erkennens sdion hinabreicht, während der Urgrund in sdiauervoUer
Abgründigkeit selbst der Beziehung der Erkenntnis entrückt bleibt. Im
Buche „Jezirah" wird derselbe mit dem dem Buche Hiob ** entnommenen
Worte „Belimah" bezeichnet, welches, in seine Bestandteile zerlegt, das
„Was-lose" bedeutet: dasjenige, was noch nidit die Bestimmung des
„Was" an sidi trägt.
* Auf dieses „Ajin" bezieht der Sohar die Frage der Israeliten (Exodus,
cap. 17, V. 7) : »Ist Jehovah in unserer Mitte oder nidit", in der Fassung : „Ist
Jehovah in unserer Mitte oder Ajin ?"
** cap. 26, V. 7.
Die letzten Hohen. Der Sefirothbaum als Weltorganismus. Erste u. letzte Sefirah. 15
Aber von den letzten faßbaren Höhen bis herab in unsere Menschen-
wirklidikeit und unter dieselbe stellt sich der Kabbalah das Sein als eine
abgestufte Leiter dar: genauer gesprochen, als ein einziger, erhabener
Welt Organismus im Bilde des Sefirothbaumes."'
Das Wort »Sefirah" selbst entspricht einer von unseren gebräudilichen
Denkmethoden untersdiiedenen Art Überslnnlidies zu betraditen. Der
Wortstamm hängt mit „zählen" zusammen, hinweisend auf ein geheimnis-
volles System zahlenmäßiger Verbindungen und Verschlingungen, in
welchen die Urmächte des Daseins zu ewig-sdiöpferischer Wirklidikeit
lebendig sidi gruppieren. Zugleich enthält dieses Wort einen merkwürdigen
Anklang an die griediisdien „Sphären", weldbe physisdi die kugel-
schalig geformten planetarischen Umhüllungen der Erde, geistig ebenfalls
bestimmte Weltpotenzen bedeuten. Der „Baum" selbst aber will diesen
Zusammenhang im Bilde des organischen Lebens festhalten, wobei nur
nicht an einzelnes, sondern an das universale und nicht an das physische,
sondern an geistiges Leben eines in seiner wahren Wirklichkeit geistigen
Universums zu denken ist. Und dieses Bild läßt eine Metaphysik erkennen,
welche ebensowenig der Spekulation als der sinnlichen Anschauung
entspringen kann, die sich ihrer Methode nach noch eher mit geometrischer
Kombinatorik vergleichen läßt, nur daß die Objekte derselben eben
nidit die Objekte der Mathematik sind, sondern jene Gründe des
Daseins, welche dem Menschengeiste selbst eingewoben sind und nur
der in sich gewendeten „Betraditung" (Histakluth) sich erschließen.
Folgt man also den Wegen der Kabbalah, dann kann der Baum nicht
„konstruiert", sondern nur „analysiert" werden.
Eine Zehnheit der Sefiroth will die Hintergründe des Weltdaseins
bezeichnen, in einer Ausgeglichenheit, der sehr häufig auch das Bild der
Wage zum Ausdruck dient. In unnennbaren Höhen geht die oberste der
Sefiroth, die „Krone" (Kether) unschiedlich in das »Unendliche"
über. Sie wird hie und da mit demselben für eins gehalten. Die unterste
wird durch das Menschenreich gebildet — das »Reich" schlechthin
(eigentlich M a 1 c h u t h = Königreich), in verwandtem Sinne, wie dieses
Wort audi im christlichen „Vaterunser" gemeint ist, als jene Geistes-
region, welche den Menschen unmittelbar berührt und umgibt. Die Ab-
stufung schließt indessen nicht eigentlich eine Höher- und Minder Wertung
ein, und wie die „Krone" keimhaft den ganzen Baum in sidi trägt, so
erscheint wieder der ganze Baum im ,, Reiche" verdichtet. So werden auch
* Vgl. die schematische Zeichnung' am Schlüsse des die Lehre darstellenden Teiles.
16. Namen der übrigen Sefiroth. Die oberste Dreiheit.
gerne die erste und die zehnte Sef irah direkt verbunden : in dem Namen
,,Kether Malchuth", welchen auch die mystisch-religiöse Diditung
Salomo ihn Gabirols trägt.
Sieht man von der untersten der Sefiroth ab, so ersdieinen die
übrigen in drei Dreiheiten angeordnet, von denen die höchste außer
Kether noch Chochmah („Weisheit") und Bin ah („untersdieidende
Vernunft") enthält, die mittlere C h e s s e d („Liebe") oder G e d ü 1 1 a h
(„Größe"), D i n („richtende Gereditigkeit") oderGeburah („Stärke")
und Tif ereth („Herrlichkeiit", in Wirklichkeit die Harmonie von allen),
audi Rachamim („Erbarmen") genannt, die untere Nezach („Dauer-
kraft"), Hod („Sdiönheit") und Jessod („Fundament**).*
Die oberste Dreiheit bezeidinet wesentliche Potenzen der Er-
kenntnis, weldie, in sidi selbst vertieft, höchste Stufen des Daseins
zur Offenbarung bringen (das „Vernunftreicfa"). Die » Weisheit*^ bildet
erst eigentlich den Uranfang der Dinge und wird als solcher schon im
Buche der Sprüdie gesdiildert, in der Gnosis dann mit dem Logos
identifiziert und je nach der Auffassung als erstes Gesdiöpf oder als der
Weltschöpfer selbst betrachtet, hinter dem noch das Ursein zu erahnen
ist. In der einen der aus der hellenistischen Zeit stammenden aramäischen
Bibelübersetzungen, dem „Targum Jeruschalmi", wird das erste Wort der
Bibel: „Beresdiith" („im Anfang") geradezu durch „Weisheit" wieder-
gegeben. Und auch der Sohar übersetzt die ersten Bibelworte gelegentlidi
in Identifizierung von „Reschith" und „Chochmah", welche auch durch
eine biblisdie Wendung nahegelegt wird, und zugleich hinweisend auf eine
nodi zu besprechende Unterschiedlichkeit der Gottesnamen, mit den Worten :
„Durch Weisheit sdiuf es (das Unnennbare und nicht Genannte) Elohim".
Erst „Binah" enthält zur Weisheit auch die Negation, daher die Unter-
scheidung und Sdieidung des Sinnvollen und Sinnlosen, die Begrenzung
und Formung des vernünftigen Wesens selbst. Wie in der platonisdien
Philosophie hat man bei diesen Namen nicht an Abstraktionen zu denken,
sondern an Wesenhaftes, dessen Substanz durch Weisheit gebildet wird.
Hie und da wird dann noch, indem „Kether" als mit dem „Ejn Sof"
identisch über den Sefirothbaum hinausgehoben erscheint, zu „Weisheit"
und „Vernunft" „Daath" als dritte Sphäre sich verwirklichender
„Erkenntnis" hinzugefügt.
* Die Namen »GeduUah, Geburah, Tif ereth, Nezach, Hod* finden sich in
einem Bibelverse (I. Buch der Chronik, cap. 29, v. 11) vereint.
Die mittlere und die untere Dreiheit. Die rechte und die linke Seite. 17
Die mittlere Dreiheit bezeichnet die Urmächte des seelischen
Lebens, als welche die absolut bejahende Liebe und die scheidende
Gerechtigkeit erscheinen, beide erst verbunden und versöhnt durch ein
harmonisierendes Urelement, dessen Name „Barmherzigkeit" nichts von
Passivität in sich enthält, sondern eine Sphäre bezeichnet, in welcher
Liebe wirken kann, ohne in sich selbst zu zerfließen, gestärkt und
geformt durch »Gerechtigkeit", der die Unterschiedlichkeiten des Daseins
unterworfen sind.
Die dritte Dreiheit enthält die Urmächte des vitalen Daseins (des
„Naturreichs"): Stärke, Schönheit und als vom unteren Urgründe her
schöpferisches Band die. physische Zeugungsmacht, in welcher Kraft und
Schönheit auf wunderbare Art keimhaft verschmolzen erscheinen und
welche daher das »Fundament" für beide bildet, ja auch für den ganzen
Baum, insoferne sein Sinn in der Manifestation des Geistes bis in die
physische Natur hinein gelegen ist. Und in einer gewissen Polarität zu
einander stehen »Stärke" und »Schönheit", wobei im physischen Aspekte
die erstere das Primäre, Positive ist,^ während Schönheit schon eine gewisse
den Gegensatz der Stärke miteinschließende Formung derselben bildet.
Diese Einteilung in drei Dreiheiten, welche in gewisser Beziehung noch
nach oben und unten in Fortsetzungen münden, läßt auch schon eine
andere Gliederung erkennen : in rein positive Potenzen (Weisheit,
Liebe, Kraft im physischen Aspekte) und in solche, welche einen Gegen-
satz einschließen und wohl auch ursprünglich begründen (Vernunft,
Gerechtigkeit oder Strenge, Schönheit). Es ist aber hiebei nicht etwa an
negative Prinzipien zu denken, zu welcher Auffassung die schematische
Darstellung leicht verführen könnte, da „Vernunft" offenbar nicht als
Gegensatz von Weisheit, Gerechtigkeit nicht als Gegensatz von
Liebe oder Schönheit als solcher von Kraft gelten kann, wohl aber an ein
ursprüngliches Beziehen zu einem Negativen, welch letzteres, etwa im
Sinne Spinozas, im letzten Ursprung eigentlich nicht ist, in den
„Baum des Lebens" also gar nicht einbezogen werden kann. Oder man
denke etwa an eine durch Verdichtung des eigenen Wesens der betreffenden
Urpotenz bewirkte Ausschließung all dessen, was dieselbe nicht ist.
In diesem Sinne bezeichnet z. B. Bischoff die Prinzipien der rechten
Seite als diejenigen der Expansion oder der Extensivität, — denn es
bedeutet ja alle reine Positivität ein in die Weite ausstrahlendes, sich
ins Unbestimmte ergießendes Element — die linke Seite als diejenige
der Intensivität, indem die Konzentration des Eigenwesens der Urpotenz
2
u/'
18 Polarität und Gleichgewicht.
in ihr die Macht der Scheidung und des Widerstandes erzeugt. So
erklären sich die rätselhaften Namen „Gedullah" (Größe) für die Sefirah
der Liebe, „Geburah" (Stärke) für jene der richtenden Strenge.
Während nun der „linken Seite" an sich schon eine gewisse die Positivität
und ihren Gegensatz überbrückende, allerdings durch Scheidung über-
brüdcende Funktion innewohnt, treten wieder zwischen jene der rechten
und der linken Seite Prinzipien eines gewissen Ausgleichs und mehr:
einer gewissen Synthese. In ihnen vereinigen sich die beiden polaren
Prinzipien gewissermaßen in einen höheren Zustand, der, Frucht und
Keim zugleich, beide wieder erneuert aus sich erfließen läßt. So bildet
denn „Kether" ein Reich des Über- Vernünftigen, das aus Weisheit und
Vernunft sich erzeugt und diese immer wieder aus sich erzeugt, und
gleiches gilt von ,, Erbarmen" in Beziehung auf Liebe und Gerechtigkeit,
vom „Fundament" in Beziehung auf Schönheit und Kraft.
Nehmen wir aber nodi hinzu, daß das höchste Verbindungsprinzip
jeder Dreiheit dodi wieder nur in seiner reinen Posivität, also in dem
jeweiligen Prinzipe der rechten Seite zu suchen ist, so ergibt sid»
eine noch vermannigfaltigtere und vertieftere Anschauungsweise dieser
Gliederung.*'' Und daß sdiließlich innerhalb derselben auch wieder die
mittlere Dreiheit für den Sinn des ganzen Weltenorganismus die
zentralste ist, kommt darin zum Ausdruck, daß die drei Säulen, welche
die vertikale Dimension des Baumes bilden, nicht bloß als die rechte,
linke und mittlere, sondern geradezu als »Säule der Liebe", der
„Gerechtigkeit", des „Erbarmens" bezeichnet werden.
Verschiedene Namen und Bilder wollen diese Verhältnisse der geistigen
Anschauung näher bringen. So wenn die Polarität der rechten und
linken Seite hie und da durch das Bild zweier Wagschalen bezeidinet
wird, welche eine in der Mitte wirkende Macht im Gleichgewichte hält.
Der Gleichgewichtszustand ist überhaupt das Kennzeichen einer Welt,
die „Bestand hat", im Gegensatze zu anderen, voraufgegangenen Welten
oder Weltmöglichkeiten. Ein die ganze Soharliteratur in zahlreidien
Variationen durchziehendes Symbol ist jenes der Geschlechter. Immer
* Merkwürdigerweise begegnen wir neuestens dem Gedanken, dafi die
Polarität des Positiven und Negativen im umfassenden positiven Prinzip wieder
ihre höhere Vereinigung findet, bei dem von jüdischer Struktur des Denkens
vielleidit irgendwie beeinflußten Philosophen Georg Simmel, s. dessen Schrift
„Der Krieg und die geistigen. Entscheidungen". S. 38, („Die Dialektik des deut-
schen Geistes".)
MSnnlidies und weibliches Prinzip. Der Grund des Bösen. 19
gilt das positive Prinzip (also auch dasjenige der Liebe) als
das männliche, das negativ geriditete (also auch dasjenige der
richtenden G e r e cii t i g k e i t) als das weiblidie. In diesem Symbole
treffen sidi aber die Gegensätze von Rechts und Links mit jenen von
Oben und Unten. Wie in der Shankya-Philosophie der alten Inder
Prakriti den empfangenden Ursdioß der Natur bildet, wie in der
Schellin g'schen Naturphilosophie alle Entwiddung doppelt gerichtet
erscheint, als ein Niederstieg des Geistes und als ein Aufstieg der
Natur, so stellt audi die Kabbalah dem Urgöttlidien, dem sdiöpferisdien
Urgeist, die »Schechinah" oder „Matrone" gegenüber als den erhabenen
Urgrund aller Geistempfänglichkeit und Geistempfängnis, wohnend in
der untersten Sefirah, dem ,>Reidi", oder mit diesem identisch, die
„Königin", deren Vereinigung mit dem aus den oberen Sphären herab-
steigenden „himmlisdben König" Wonne und Heil allen Welten bringt.
Aber selbst sdieinbar so niditssagende Bezeichnungen wie die der
rechten und linken Seite wollen im Sinne der Kabbalah als mehr denn
blofie Namen genommen werden. Denn auch die ansdbeinend indifferenten
Gegensätze des Raumes leiten, wie das Budi Jezirah ahnen läßt und
wie sich aus der alten Bezeidmung Gottes als „Ort" (Makom) ergibt,
ihren letzten Ursprung aus der schöpferischen Polarität des geistigen Daseins.
Hier ergibt sich aber nodi eine höchst bedeutsame, ja im Zusammen-
hange der kabbalistischen Lehre geradezu fundamentale Anknüpfung und
Unterscheidung. Was wir nämlich als den „Urgrund des Bösen"
bezeichnen, muß, wie in Bezug auf die Negation überhaupt schon ange-
deutet, ursprünglich schon im linken Prinzip veranlagt sein, kommt aber
erst dadurdi zur Entstehung, daß dieses von seinem Zusammenhange mit
dem rediten, von seinem positiven Sinn gleichsam, der im rechten Prinzip
gelegen ist, sich losreißt und verselbständigt. Hier haben wir das
universal-kosmische Bild dessen, was z. B. im Christentum als „Abfall
der Erzengel" bezeichnet wird. Erst durdi diesen Abfall geht aus der
„linken Seite" die „ändere Seite" hervor, als weldie alles Böse
Daseinsfeindliche erkannt wird, mit der Unterscheidungskraft der Konzen-,
tration, aber auch in unaussprechlicher Sdieu vor einem Urgeheimnis
dessen Schleier nicht gelüftet werden wollen.
So ergibt sidi aber eine doppelte Scheidung: jene ursprüngliche des
Positiven und Negativen, der Geistesfülle gleichsam und Geistesleere,
und jene andere, darin die Negativität sidi selbst an die Stelle der
Positivität setzt, der Ursprung aller „Empörung" und „Verwirrung"
2*
20 Das Negative und das Böse. Symbolische Benennungen.
Tiefsinnig wird in der Bibel der eine Gegensatz im Werke des zweiten
Schöpfungstages durdi die „Sdieidung der Wasser" symbolisiert. Aber
die Weglassung der die Beridite der anderen Schöpfungstage absdiließen-
den Wendung: „Und Gott sah, daß es gut war" will nach der Deutung
des Sohar ein Hinweis darauf sein, daß die Erschaffung der Spaltung
zugleich den Grund eines Prinzips bildet, welches den Gegensatz des
Guten bedeutet. Am wesenhaftesten erscheint natürlich diese verdoppelte
Polarität in der mittleren Sphäre, als kosmische Urpolarität des Ethisdien.
Einerseits bilden nämlich Alliebe und Allstrenge eine ursprüngliche
Polarität, die dodi keinen Widerspruch einschließt, andrerseits aber
wird die als Strenge sidi manifestierende Weltkraft ohne den Sinn der
in ihr wirksamen Liebe zum Gegensatze der Liebe, zur Macht des
,,Zornes" und des „Schreckens". Bedeutungsvoll ist in letzterer
Hinsicht auch die vom Sohar gemadite Untersdieidung von zwei Arten
der Furcht, deren eine, als Gottesfurcht neben der Gottesliebe
wirksam, doch ein wesentliches Attribut der letzteren bildet, die schauer-
volle Ehrfurdit vor der geistigen Unendlidikeit bezeichnend — und im
Namen „P ach ad", der audi für die Sefirah der richtenden Strenge
gebraucht wird, ersdieint diese Furcht selbst als wirksame Weltpotenz —
während die andere, in sidi isoliert, erregt durdi Mächte, weldie selbst
wieder nidits als Furcht erwecken, allem hoffnungsvollen Dasein wider-
streitet. Hiebei mag es auch als diarakteristisch erscheinen, daß die
eine Seite, wie die Liebe, aber auch noch die Gottesfurdit, ein ver-
bindendes, die andere ein trennendes Element zwischen den Wesen bildet.
Noch mannigfache Bezeichnungen und Beziehungen der Sefiroth
begegnen uns innerhalb der kabbalistisdien Lehre. So treffen wir, bei
Außerachtlassung aller stereotyp gewordenen Benennungen, auf Schilde-
rungen von Regionen, welche dieselben nur in gewissen Hinsichten
diarakterisieren und dennoch auf ganz bestimmte Sefiroth zu beziehen
sind. Es werden diesen Regionen dann je nach dem Zusammenhange
allerlei geheimnisvolle Namen beigelegt, wie die „Bindung des Lebens",
die »Stätte der Liebe" oder „Alles" schledithin. Auch Lidit und Farben
dienen hie und da zur symbolischen Charakteristik, und zwar werden
die höchsten Regionen durch völlige Unsichtbarkeit oder ein ,verborgenes
Licht', in weiterem Hinabstiege aber durch strahlendsten Glanz diarak-
terisiert, während in paradoxer Bezeichnungsweise ein „nicht leuchtendes
Lidit" als der Urgrund der „unteren Welt" hingestellt wird. Ferner
entspridit dem Prinzip oder der ganzen Säule der Liebe die weiße, der
Farben. Zehnzahl. Kanäle. Die vier Weiten. 21
linken Seite die rote Farbe, während die Buntheit der übrigen Farben,
vor allem aber das ausgleidiende Grün, die Chakteristik der mittleren
Sphären bildet. Man kann etwa an Goethes „sinnlich-sittliche" Farben-
qualitäten (in seiner ,, Farbenlehre") anknüpfen, um derlei Entsprediungen
ihren Sinn abzugewinnen.
Am bedeutsamsten aber sind die Beziehungen der Sefiroth zum
Menschen, in seinem Doppelwesen: als Erdenmensdi, aber audi als dessen
erhabenes, göttliches Urbild, der Gottmensch oder Messias.
Die Gliederung des Baumes ersdieint auch wiederum mit der Zehn-
zahl seiner Zweige nicht ersdiöpft. Denn das Prinzip der Zehn, das sich
in merkwürdiger Weise, wie wir sahen, an Einheit, Zweiheit und Dreiheit
ansdiließt, spiegelt sich wieder in jeder einzelnen Sefirah, indem die-
selbe, wie dies bei Kether und Malchuth schon angedeutet wurde, den
ganzen Baum in sich wiederholt und fortsetzt.
Und überdies enthält der Baum außer den einzelnen Weltpotenzen
und ihren bestimmten gruppenweisen Zusammenhängen auch noch ein
ganz bestimmtes System von dreizehn selbst lebendigen Über-
gängen („Kanälen") zwischen den Weltpotenzen, in welchen ein
urewiges, den Sefiroth als Weltkräften noch immanentes Ursein von
Stufe zu Stufe sich ergießt, auf- und abströmend, sich ewig wandelnd, in
den vier Formen des Welten Werkes sich manifestierend.
Hiemit wird eine die Sefirothlehre ergänzende, aus der älteren
Kabbalah übernommene Einteilung der Welten berührt, eine Einteilung
nicht sowohl nach der Art der Urpotenzen als vielmehr nach dem Höhen-
oder vielmehr sozusagen dem Geistigkeits grade tätigen Gesdiehens
und dadurdi der geschaffenen Wirklichkeit. Die Kabbalah untersdieidet vier
Welten: eine „Welt der Emanation" (Olam ha-Aziluth), eine „Welt
der Schöpfung" (Olam ha-Beriah), eine „Welt der Formung" (Olam
ha-Jezirah), eine „Welt des Tuns" (Olam ha-Assijah). Wie Ursein in „erste
Bewegung", wie Allewigkeit in noch überzeitlichen Ursprung übergehen kann,
bildet das Urgeheimnis, dem Neuplatoniker und Kabbalisten in übergedank-
licher Versenkung nadigingen. Das zweite Geheimnis : wie Zeit aus Ewigkeit
erquellen, wie zeitlose Entwidmung der Ideen, das Wort in Hegelsdier
Gedankenhöhe verstanden, zur Schöpfung werden kann. Und geheimnisvoll
wieder geht einmaliges Schöpfungswerk über in den fortwährenden Welt-
prozess und dieser aus Rätselgründen in das Geschehnis täglidier Tat.
Was im gewöhnlichen Begriffe der Religion „Schöpfung" genannt
wird, entspricht eigentlich erst der dritten dieser Welten, über welche
22 Charakteristik der vier Welten.
sidi nodi die urbildliche Welt der in sich sdiöpferisdien Ideen erhebt
und in die sdiauervoUen Abgründe des Ejn-Sof hinein eine Welt ewigen
Quellens aus der Dinge völlig gestaltlosem Ursdiosse. Besser vielleidit
nodi als im Bilde solcher Urprozesse könnten vier Welten, soweit sie
überhaupt dem Begriffe nahbar sind, als Produkte derselben verstanden
werden. So hätte der Urprozeß der Emanation, wo wir diese Sdieidung
noch nicht machen können, eine Welt der Ideen, der zweite eine Welt
der Formen erst zur Folge. Auch in Bezug auf die letztere ist wohl nodi
immer nidit an physisdie Gestaltung zu denken, vielmehr an eine Welt
aus zahlen-, laut- und buchstabenartigen Urgebilden, weldie sich von
den letzten Konzentrationen mathematischer und sprachlidier Begriffe
nur dadurdi untersdieiden, daß sie nicht als lebensleere Abstrak-
tionen, sondern als unmittelbar letzte Form und Ausdruck rein geistigen
Lebens betrachtet sein wollen. Ohne daß der Sohar in dieser Beziehung
irgendwie systematisch vorgehen würde, knüpft er immer wieder in
konkreten Einzelfällen an solche Lehren der älteren Kabbalah an, welche
letzte Rätsel und Lösungen in zahlenmäßigen Anordnungen der Zahlen
selbst, der Urpotenzen des Sefirothbaumes, der Laute und Buchstaben
von besonders ehrfürchtigen Namen und Worten, gewisser zeremonieller
Einrichtungen suchen. Ganz in pythagoräischem Sinne erscheint die Zahl
hiebei als nicht verstandesmäßig starres, sondern in sich aktives Element
höchster Geistigkeit, dessen materielle Verdichtung gleichsam und getrübte
Spiegelung erst etwa jene zahlenmäßigen Gesetze darstellen würden, in
welchen sich die Wirksamkeit physischer Kräfte äußert. Hie und da
freilich verliert sich der Sohar in seiner Vorliebe für diesen Gegenstand
in Deutungen kindlicher Naivität, so in dem Rangstreit der hebräischen
Buchstaben um die Würde der von ihnen getragenen Worte oder in
den mannigfachen Zerlegungen der allerdings an sich schon recht merk-
würdigen Buchstabenformen^
Erst die aktiven, urgestaltlichen Kräfte nun, die sidi in Zahl und
Zeidien bergen, wirken weltschöpferisdi im physisdien Sinne. Natürlidi
ist aber auch diese unsere geschaffene Welt nidit nur Produkt
Schöpferischer Urkraft, sondern im Sinne gröbster Verdichtung auch
wieder Trägerin derselben. Das deutet der biblische Schöpfungsberidit
an, wenn er an das Ende des Sdiöpfungswerkes, das durch den Wort-
stamm 4er „Beriah" bezeichnet wird, die Worte setzt: ,,um zu tun"
(la'assoth). So steht am Schlüsse des Weltenwerkes wiederum die Tat
als Ende, Fortsetzung und Neubeginn. In verhüllter Gestalt sich bergend
Die Welt der „Tat". Strahlung, Strömung und Befruditung. 23
in allem, was in der sichtbaren Welt gesdiieht, in aller Fortsetzung
des Schöpf ungswerkes gleichsam, die schon in die geschaffene Welt
hineinfällt; in offenbarer und vollendeter Form aber sidi zeigend auf
der hödisten Stufe des nadi einem Worte Goethes „heraufgegipfelten"
innerweltlidien Entwidclungswerkes, als wiederum geistig-aktiv gewordene
Form irdisdien Geschehens: die freie Tat des Menschen.
So umfaßt denn das Sdiöpfungswerk gewissermaßen alles Werk über-
haupt, seine Bahnen reidien aus unsagbaren Höhen bis in die uns um-
gebende Menschenwelt, ja unter dieselbe hinab.
Aber wieder will sich die Schilderung des Sohar nicht in der Enge
des Schemas besdiränken lassen. In Bild und Gleichnis sucht sie das
ferne und nähere Geheimnis zu berühren, soweit als möglich nach-
zuformen und auszusprechen. Bild und Gleidinis selber werden immer
dunkler, immer weniger faßbar, je dunkler und aller Erdenwirklidikeit
entrüdcter ihr Gegenstand. Oft müssen sidi, um den Gegenstand ahnen
zu lassen, versdiiedene Bilder ergänzen, durdidringen, mandimal absicht-
lidie Widersprüche in immer entferntere Tiefen weisen. So erscheint der
erste Sdiöpfungsakt unter dem Bilde einäs vom Ejn-Sof her entzündeten
Funkens, der aber nodi licfatlos und als Punkt raumlos ist. Seine Aus-
strahlung ist zugleidi Raum- und Lichtersdiaffung und allmählidie Ver-
diditung übergeistiger Substanz. Denn alle Offenbarung ist auch bereits
„Gewand" der Gottheit, das zuerst nur aus übersinnlichem „Saphir-
glanze" besteht, der allen Lichtglanz noch in Schatten stellt, dann aber
immer dichter und dichter wird, bis herab zu den dunklen Hüllen der
Materie, ja bis zu den undurchdringlichen „Schalen" (Kelif oth), welche
als Gegenpotenzen der „Sefiroth" allem Bösen den Widerhalt gewähren.
Jenes Strahlen aber erscheint auch als ein Strömen, das allmählidi in
die selbst lebendigen Kanäle der Sefiroth übergeht. Und dieser Strom
ist zugleich Besamung mit urgeistiger Fruchtbarkeit, geschildert unter
dem versdimolzenen Bilde der Befruchtung und der Tränkung des
himmlischen „Gartens", ein Vorgang unendlicher Wonne, für welcjien
der Zeugungsakt herangezogen wird als Symbol der welterschaffenden
Verbindung eines „Ewig-Männlichen" und „Ewig- Weiblichen". Die innere
Willensmacht des Sdiöpfungswerkes aber bildet das „Wort", das
Gedanke und Kraft aus sich erzeugt, selbst über beiden erhaben. In
einer merkwürdigen Kommentierung des 19. Psalms* wird dieser Nieder-
* Siehe im zweiten Teile dieses Budies den Versuch einer der Deutung des
Sohar folgenden Übertragung dieses Psalms.
24 Das »Wort* ■ Einheit oder Vielheit des Göttlichen.
stieg, die „Fleischwerdung des Wortes", im Einzelnen geschildert.
Urgründig aber steht hinter der Welt, hinter der Welt der Dinge, aber
auch noch der Gestalten und der Ideen der Gottesname, in immer
anderen Formen „den Sphären eingeprägt".
Denn Eines noch verbirgt sich hinter Urmächten und Urkräften, hinter
Werk und Wirklichkeit: das Urwesen und aus ihm ewig entspringend
alle die Wesen, weldie die Welten nidbt nur bevölkerui sondern ihr
Innerstes selber ausmachen.
Die hie und da aufgeworfene Frage, ob die Kabbalah monotheistisch
sei oder polytheistisch oder trialistisch im Sinne der christlichen Drei-
einigkeitslehre, ist aus dem Äußeren ihrer Dokumente nicht eindeutig zu
entscheiden. Der Sohar spricht immer wieder nicht nur von Welten,
die gegenüber unserer „unteren Welt" als die „oberen" bezeichnet
werden, sondern auch von Engeln, Geistern und Dämonen, von himmlischen
Herrschern und Dienern, ja von ganzen Sdiaren soldier Wesen, anderer-
seits aber audi von Wesen solcher Höhe, daß dieselben mit der Ur-
gottheit nur im engsten Zusammenhange vorzustellen sind. Diese freilidi
wird immer nur als eine bezeidbnet und der Sohar wird nicht müde,
diese Einheit in tausend Wendungen zu betonen, namentlich auch in
dem Sinne, daß selbst die Verschiedenheiten von Wesen, Sefiroth und
schöpferischen Taten in den oberen Welten doch nur sdieinbar sind
und alles doch nur „eines ist". Ja es scheint in dieser stereotypen
Wendung die Anschauung zum Ausdrude zu kommen, daß die Begriffs<-
gegensätze „Einheit" und ,, Vielheit", „Gleichheit" und „Verschiedenheit",
mit denen wir den Dingen unserer Welt begegnen, auf die oberen Welten
überhaupt nur gleichnisweise angewendet werden dürfen.
In der Vielzahl allerdings treten uns insbesondere die Gottesnamen
selbst entgegen, und es ist dabei zu beachten, daß, wenn der Gott der
Religionen in der kabbalistischen Literatur mit verschiedenen Namen
bezeichnet wird, auch wirklich wesenhaft Verschiedenes gemeint ist. Den-
noch wird auch damit der Sinn einer hödisten Einheit doch nidit durch-
brochen, wenn auch jene Höhe, in welche die formale Religion oder auch
deren spekulative Deutung die „Einheit" verlegt, für die kabbalistische
Auffassung immer nodi der Vielheit heimgegeben ist. Ja Vielheit
herrscht, soweit als menschlidies Fassungsvermögen überhaupt konkret
'dem Wesen nahen kann. Ein Unnennbares, Unfaßbares, für welches auch
das Attribut der Einheit weit mehr als zahlenmäßige Einheit bedeutet*,
* So die Auffassung- der Zahlenmystiker, z. B. auch Ihn Esra's.
Gottesnamen. Engel und Geister. 25
offenbart sich innerhalb jener mensdilidien Schranken, welche auch der
mystischen Versenkung gesetzt sind, immer bereits als eine Vielheit von
Urpotenzen, weldie dann der Sohar entweder in freier Darstellung oder
durdb Deutung von Bibelversen in ihrem Wesen zu kennzeidinen versucht
oder mit bestimmten Gottesnamen bezeichnet, wobei dieselben wiederum
als mit einzelnen Sefiroth identisch, beziehungsweise als deren Herrscher
erscheinen. So soll noch manchen Deutungen der nur einmal in der
Bibel, an entscheidender Stelle, verwendete Name „Ehejeh" der höchsten
Sphäre: Kether, „Jehovah" der Sphäre der Vernunft, „Elohim" der
mittelsten Sphäre „Tifereth", die Verbindung des Gottesnamens mit
„Zebaoth" dem immer zusammen genannten Regionenpaare „Nezadi"
und „Hod", ,,Sdiaddai" dem ,, Fundament" und „Adonai", der „Herr",
dem „Reiche", der Sphäre des Menschen, entsprechen.
In freierer Auslegung wird gelegentlich der Name „Elohim" auf ein
Wesen gedeutet, welches, ehe es „Objekt" wurde, noch gänzlidi nur
„Subjekt" ist. Hierauf bezieht der Sohar den Satz: ,,Mi barah eleh"
(„Wer" hat „Dieses" erschaffen) indem „Mi" und „Eleh" mit ihren Buch-
staben zusammen das Wort ,, Elohim" ergeben, auf einen Schöpfungs-
akt hindeutend, worin die Objektwelt des „Dieses" dem ewigen Ur-
gründe des „Wer" entspringt.*
Und wieder enthalten die Gottesnamen in ihren Bestandteilen geheim-
nisvolle Urlaute sowie in gewissen, aus bestimmter Zuordnung von
Buchstaben und Zahlen hergeleiteten Zahlenwerten die letzten Form-
geheimnisse der Schöpfung.
Außer den biblischen Gottesnamen aber verwendet der Sohar audi
Benennungen, welche bloß das Geheimnisvolle des Urwesens oder seine
Urerhabenheit ausspredien wollen wie: „der Verborgene der Verborgenen",
der „Alte der Alten", der „Alte der Tage", der „heilige Alte", „der
Langgesichtige", das „weiße Haupt".
Engel und Geister können natürlich nicht als Götter betrachtet
werden, denn auch sie sind erschaffene Wesen, erschaffen aus geistiger
Substanz, welche wiederum durch die Namen der vier Elemente be-
zeichnet wird. In diesem Sinne wird z. B. der Psalmvers gedeutet:
„Er macht Winde zu Seinen Boten, zu Seinen Dienern lohendes Feuer".**
Die Natur dieser Wesen wird durch ihre Wirksamkeit gekennzeichnet.
* H. Joel: Die Religionsphilosophie des Sohar, S. 235 und Hugo Berg-
mann: „Die Heiligung des Namens".
** Ps. 104, V. 4.
26 Die Fülle der geistigen Wesen.
Es gibt Wesen, deren Dasein nidits als Gottespreis ist, Wesen, die über
Gebet und Opfer gesetzt sind, es gibt siebzig himmlische Regenten der
Völker („Fürsten" oder Sarim) und Sdiutzwesen, welche die Lebenspfade
der einzelnen Menschen begleiten. Eine Hierardiie solcher Himmelswesen
wird angedeutet, weldie wie in der Vision des Ezediiel als Cherubim,
Seraphim, Ophanim bezeichnet werden und sich im Gefolge der
vier Erzengel : Michael, Gabriel, Uriel und Rafael (oder Peniel)
um den himmlischen Thronwagen gruppieren. Oder es werden soldie
Wesen wieder den einzelnen Sefiroth zugeordnet, welche ihrerseits wieder
von besonders erhabenen Wesen regiert sind. Im Allgemeinen bezeichnet
es die Art dieser Wesen, daß sie zumeist in Sdiaren oder „Heersdiaren"
gedadit werden, mitunter in der mystisdien Gruppierung des „Wagens"
(Retidia), worin Geister verschiedener Erhabenheitsstufen zu gemeinsamem
Werke verbunden ersdieinen. Überhaupt ist der geistige Standort, dieser
Wesen nicht als ein fixer zu betrachten, sie strömen in nie rastender Bewegung
an der von Jakob ersdiauten Himmelsleiter auf und nieder. Endlidi hat
der über das Mensdilidie hinausreichende Sündenfall die Existenz von
Wesen der anderen Seite zur Folge, den geistigen Trägern des Zornes,
der Verwirrung und der Zerstörung. Hier erscheint unterhalb der sozu-
sagen positiven Welten eine feindlidie Welt, aus dem „Gifte der
Schlange" entsprungen, eine Welt schweifender Wesen, die im Sdiöpfungs-
akte nidit zu ihrer Vollendung gelangt sind und diese im Zeidien der
Eigensucht von den oberen Welten glauben erzwingen zu können; an
ihrer Spitze Samael, dem wieder als weibliches Herrsdierelement des
„Urbösen" Lilith zugesellt ist. Im Zeidien dieser Welt, weldie audi
die „Welt des Sdiweigens" genannt wird, steht endlich der Tod und
ein Daseinsgebiet, darin der schöpferische Geist gleichsam in ein blindes
Ende einmündet, was der Sohar durch das Bild der „Vergessenheit"
andeutet.
Wenn die Kabbalah das letzte Göttlidie als verborgene Einheit
anspricht, die Zahl rein geistiger Wesen jedoch in ihr als unendlidi
vielfach erscheint — zumal in ihrem Lichte eigentlidi audi der Mensch
ein soldies ist — so steht andrerseits zwisdien den Aspekten der Einheit
und der Vielheit ein besonderes Moment, an weldies die Frage nadi
einer Beziehung der Kabbalah zum Christentum vielfadi angeknüpft hat,
die Vorstellung der Dreieinigkeit. Die unleugbare Tatsache, daß
diese Idee die ganze kabbalistische Lehre, und namentlidi in der Form,
in der sie uns im Sohar vorliegt, durchzieht, ermöglidite es auf
Die Frage der Dreieinigkeit. 27
der einen Seite christlidien Gelehrten, wie sdion dem Sdiolastiker
Raymundus Lullus*, in derselben einen Hauptbeleg, ja selbst
geradezu die mystische Begründung des Christentums zu erblidcen», und
bot dann Bekehrungssüditigen ein beliebtes Mittel zu feinerer Juden-
mission, anderseits erweckte sie oft genug innerhalb rationalistisdi-
gerichteter und darum der Kabbalah von vorneherein abgeneigter,
jüdischer Kreise Verdacht in Bezug auf deren Grundwesen, der durch
die Übertritte einzelner messianistischer Sekten wie der Frankisten nur
genährt wurde. Klarheit kann hier natürlich nur durch die Lehre selbst
und den in ihr gemeinten Sinn gebracht werden. Und zunächst wäre
die Trinitätsidee, losgelöst von aller dogmatisch-historischen Formulierung,
auf Sinn und Berechtigung zu prüfen. Diese Idee findet sich nun in
verschiedenen Gestalten und doch einheitlicher Grundform nicht bloß im
Christentum, sondern auch im Brahmaismus, in der neuplatonischen
Logoslehre, in der Hegeischen Philosophie, in pythagoräisdier Zahlen-
mystik, bei den Denkern der italienischen Renaissancezeit und auch in
der Kabbalah. In abstraktester Formulierung bedeutet sie, daß überall, wo
Einheit sich unmittelbar manifestiert, dies auch bereits in der Form der Drei-
heit geschieht. Und geheimnisvoll spricht der Sohar von drei Häuptern
des „heiligen Alten", welche in Wahrheit doch eines nur sind.
Es ist eine ursprügliche Beziehung, welche auch noch aller Zahlen-
beziehung vorangeht. In konkreten Verwirklichungen offenbart sie sich
darin, daß alle Seinspotenzen in Paaren von Gegensätzen auftreten,
welche jedesmal von einer höheren Einheit umfaßt werden oder aus
ihrer Polarität her eine neue Synthese ins Dasein setzen. Wir sahen
dieses Prinzip am Sefirothbaume im Einzelnen zutagetreten. Aber für
sich betrachtet, bedeutet es eben ein noch Ursprünglicheres als die
Gliederung der Sefiroth, indem es ja dieser Gliederung bereits immanent
ist, sie in universeller Weise durchdringt. Dieses Prinzip manifestiert
sich aber nicht bloß als dasjenige der horizontalen Gliederung des
Baumes in Beziehung auf seine rechte, linke und mittlere Säule, sondern
es wird auch für die Höhengliederung geltend gemacht. So werden
nicht bloß „Weisheit" und „Vernunft" als ,.Vater" und „Mutter''
bezeichnet, sondern in derselben Beziehung. der Urpolarität erscheinen
auch Geist und Urgrund der Natur: der ewige „Vater" und die
ewige „Mutter"!
* Nach Nicolaus Cusanus.
28 „Vater", „Mutter" und „Sohn".
Und der Vereinigung beider entspringt ein Neues, zuweilen als der
„Sohn" bezeichnet, auf welchen aber auch ohne stereotype Benennung
in zahllosen Namen, Wendungen und Umschreibungen als auf ein wesen-
haftes Urprinzip von besonderer Erhabenheit hingewiesen wird. Wiederum
erscheint derselbe verschiedenen Sefiroth zugeordnet, namentlich
„Tifereth", dem Herzen des ganzen Baumes, oder auch Jessod, dem
zeugenden Urgründe. Er bildet zugleich das göttliche Schöpf erwort
und kann dann, in Übereinstimmung mit der Gnosis und identisch mit
dem „Metatron" der älteren Kabbalah, geradezu als weltschöpferisches
Prinzip betrachtet werden, wobei freilich der Sinn jener Dreiheit, inner-
halb deren er von Vater und Mutter erzeugt wird, nicht mehr derselbe
bleiben kann. So wird er auch als der ,,Kurzgesichtige" (Se'er Anfin)
dem ,,Langgesichtigen" (Arach Anfin) gegenübergestellt und erscheint
in manchen Schilderungen kaum mehr unterscheidbar vom urewigen
„Vater", mit dem er gewissermaßen als Schöpfer identisch ist. Anderer-
seits aber wird er wieder geradezu als der ,,Zaddik" bezeichnet und
auf ihn der Satz bezogen : „Der Zaddik ist die Grundfeste (, Jessod')
der Welt"*. So erscheint er wieder als der Messias und in gewisser
Beziehung kaum mehr unterscheidbar vom Gipfelpunkte der Schöpfung,
welche gewissermaßen auch nur wieder er selbst ist, der geläuterte
Mensch, des Menschen Urbild und Vorbild.
Damit aber erscheinen wieder Gotteswerk und Menschenreich in un-
schiedlichem oder, wie der Sohar sagt, in einem Zusammenhange
verbunden.
Das Reich des Menschen.
Wie in fast allen mystischen Lehren, nur in noch viel weiter greifendem
Sinne, umspannt in der Kabbalah das Wort „Mensch" ein Gebiet, das
alle gewöhnliche, wissenschaftliche oder historische Erfahrung vom
Menschen und auch die ethischen oder religiösen Formulierungen des
„Menschlidien" weit hinter sich läßt. Ja, man kann geradzu sagen, daß
die Lehre vom Menschen wiedierum die ganze Lehre des Sohar in
geheimnisvoller Weise verdichtet in sid» enthält.
Sprüche, cap. 10, v. 25.
Ansdiauungen vom Menschen. Urmensdi, Adam und Einzelmensch. 29
Eine gewisse Annäherung von heutigen, durch den Darwinismus stark
getrübten Anschauungen in dieser Beziehung mag man in solchen
Begriffen des Menschen finden, wie sie etwa Hermann Cohen
seinem Ausspruche, daß ,,die Ethik die Lehre vom Menschen schledithin
sei", zugrundelegt, oder Henri Bergson einer naturphilosophisdien
Auffassung, innerhalb deren aus der Tatsache, daß der Mensch den
Gipfelpunkt schöpferischer Naturentwicklung bildet, ein Gefühl dafür
erwadit, daß der menschlidie Organismus, schon aller Naturentwicklung
immanent, also geistig allen übrigen Organismen vorangegangen sein müsse.
Die ungeheure zentrale Bedeutung aber, welche der Sohar dem
Menschenwesen beimißt, kommt in Aussprüchen zum Ausdruck, wonadi
unsere Welt erst durch die Erschaffung des Menschen ,, Bestand hat",
daß mit derselben erst der Name Gottes sich vollendet, daß erst mit
der Ersdieinung des Menschen das Sichtbarwerden, das heißt die
physische Ersdiaffung aller übrigen Wesen beginnt.
Derartige Auffassungen werden häufig mit der Bezeichnung als
„Anthropomorphismus" ungeprüft abgetan. Allein ihr Sinn kann doch
erst aus den Zusammenhängen der ganzen kabbalistischen Lehre seine
riditige Beleuchtung erfahren.
Zunächst schließt der Name „Mensch" Mehrfaches in sich, unterschieden
und dod) verbunden: das himmlische Urbild des Menschen, den „Adam
Kadmon", und Adam, den ersten Menschen: Adam ha-Rischon"; er
begreift auch sowohl die alltägliche Erscheinung des Einzelnen wie das
Ideal seiner künftigen Vollendung.
Ihre letzte Heimat aber hat sowohl die kosmisch-universelle wie die
irdisdi-individuelle Art des Menschen in jenen erhabenen Höhen, in
denen auch die Himmelswesen ihren Ursprung haben. Dieser letzte
Ursprung freilich ist derjenige des Menschen schlechthin, hier bilden
Mensch und ,, Urmensch" noch ungeschiedene Einheit. Ebenso aber, wie
in mystisdi-überzeitlichem Aspekte der „Urmensch" aus höheren Sphären
herabsteigt, so weilt auch Adam, der Vater des Menschengeschlechts,
ehe er physisch die Erde betritt, in jenem himmlischen „Garten", der
von den ewigen Quellen „Edens" getränkt wird. Und drittens lehrt
der Sohar auch für den einzelnen Menschen eine himmlische Präexistenz
seiner Seele vor der Erdengeburt.
Der Ausdrucke seines himmlischen Ursprungs und Wesens aber liegt
im „Geheimnis" der menschlichen Gestalt. Denn der Weltenorganismus
des Sefirothbaumes selber bildet die geistige Urgestalt des Menschen.
30 Die Menschengestalt als Mikrokosmos. „Himmel" und „Erde ".
So erscheinen, wie dies altüberlieferte Figuren zeigen, den einzelnen
Sefiroth Hauptgebiete des menschlichen Organismus zugeordnet (zum
Beispiel der „Weisheit" die Stirne, der mittleren Dreiheit die
beiden Arme und die Herzgegend), überragt nur von dem
über aller Organisation erhabenen Prinzip der „Krone", während
durch das Gegenprinzip „Malchuth" der geistige Mensch wie durch
die Füße an die Erdenwelt gebunden erscheint. „Die menschliche Gestalt
schließt", wie der Sohar sagt, „alles in sich, was im Himmel und
auf Erden ist, die oberen und unteren Wesen". Auch ihr erscheint
der „Name Gottes eingeprägt". In einer Symbolik, für deren Verständnis
uns jede Brücke fehlt, wird in den „Idroth" vom göttlichen Wesen
selbst nach Gliederungen und Massen, die vom menschlichen Organismus
hergenommen sind, eine in ihrer Detailierung geradezu grobsinnlich
erscheinende Schilderung entworfen. Jene Grundvorstellung aber kann
dadurch zugänglicher werden, daß überhaupt alle organische Bildung
nach Art unserer Mienen und Gebärden als unmittelbarer Geistesausdruck
aufgefaßt wird, wie auch der Sohar gelegentlich den Körper geradezu
als Siegelabdruck der Seele bezeichnet. Und auch hinsichtlich der
Gliederung und des Sinnes einzelner Organe folgt der Sohar einem
Prinzip, das sich, mehr äußerlich freilich, schon in der älteren jüdischen
Tradition vorfindet, wenn sie die Zahl der Knochen jener der Tage
des Jahres und die „zweihundertachtundvierzig Organe" der Zahl der
Gebote der Thorah entsprechen läßt.
Aber diese gestaltliche Entsprechung ,von Mikro- und Makrokosmos,
in gewisser Beziehung das Urbild aller Entsprechungen, erscheint wieder
am Erdenmenschen nur als der vollendetste Ausdrude einer allgemeineren
Entsprechung, wonach die ganze Menschenwelt, die „untere Welt", als
welche auch die „Erde" schlechthin gelten kann, in ihrer Ganzheit wie in
allen Einzelzügen nur Abbild der „oberen Welten" oder des „Himmels"
ist. Dieses Gegensatzpaar der Überlieferung: „Himmel" und „Erde"
erscheint so emporgehoben aus der Region naiver Gläubigkeit und
eigentlich doch auch in Übereinstimmung mit dem Gegenstande derselben,
als Ausdruck einer für uns urwesentlichen kosmischen Zweiheit: der
übersinnlichen Gotteswelt und einer Menschenwelt, die aber ihrerseits
auch nicht auf die physische Wohnstätte des Menschen beschränkt ist,
sondern alles umfaßt, was auch noch in geistigem Sinne „menschlich'^
genannt werden kann und somit eine ganze Welt bildet, zu deren
Benennung übrigens auch der zweite in der Bibel verwendete Name der
Das Paradies. Die drei Seelenglieder. 31
Welt: „Tewel" herangezogen wird. So schließt denn der Begriff der
„Erde" selbst auch wieder jene Dualität in sich : als „obere", gleichsam
himmlische Erde und in dieser Beziehung symbolisch bezeichnet als das
„heilige Land" (was hebräisch dasselbe ist wie „heilige Erde"), im
Gegensatze zur „unteren Erde", der Welt unseres täglichen Lebens.
In jener weilte auch der erste Mensch, ehe er auf unsere Erde herunter-
stieg, und aus Staub derselben wurde sein von der Ursünde noch
unberührter Leib gebildet.
Hiemit wird auf mehrfache, den Menschen betreffende, bedeutsame
Vorstellungen hingewiesen, so auf jene des Paradieses, das in der
kabbalistischen Deutung audi den selig lauteren Urzustand der Menschen- c^^vcC
natur selber bezeichnet. „Garten" (Gan) heißt nadi derselben nichts ] ^ '
anderes als „Körper und Seele" (indem die Anfangsbudistaben der beiden
letzteren Worte aneinandergefügt werden), und zwar in einer Einheit,
deren Grundwesen himmlische Reinheit bildet. In diesem dem Sünden-
falle vorhergehenden Urzustand ist ja auch des Menschen Leib oder das
Gewand seiner Seele noch lichtartig, das Ebenbild Gottes ist noch an
ihm sichtbar, und die ganze Natur blickt in Schauern der Ehrfurcht zum
Menschen empor, gleichwie dieser selbst zu seinem himmlischen Urbild.
Unmittelbar erscheint der Mensch noch mit seinem himmlischen Ur-
sprung verbunden und alle höhere Weisheit ist ihm kampflos eigen. Mit
dem Sündenfall erst weicht das göttliche Urbild von ihm, sein Leib selbst
wird dichter, erdenhafter. Der eigentliche Mensch aber wird erst durch
seine Seele gebildet und die eigentliche Seele erst durch ihr gleichsam
göttliches Glied: die „Neschamah". Wenn der Mensch als himmlischen
Ursprungs und Wesens betrachtet wird, so ist dabei an „Neschamah"
zu denken, den individuellen Himmelsodem, den Gott dem Erdgebilde:
„Adam" eingehaucht. Auf „Neschamah" endlich ist erst in eigentlichem
Sinne die Unsterblichkeit oder genauer gesprochen: die zeitliche Unend-
lichkeit des Menschenwesens zu beziehen, die ja auch vorgeburtliches
Dasein einschließt. "^
Wie in fast allen theosophischen Doktrinen wird aber die Seele als
dreigliedrig geschildert, indem mit „Neschamah" noch „Ruach" und
„Nefesch" verbunden erscheinen. Diese drei in der Bibel verwendeten
Bezeichnungen weisen auf Stufungen der Seele hin in ihrem Verhältnis
zur oberen und unteren Welt. „Nefesch" bildet das Organ für des
Menschen gesamtes Empfindungs- und Triebleben, für alles, was ihn
äußerlich mit der Sinnenwelt verbindet, was ihm innerlich mit der Tier-
32 Individuales, vitales Seelenprinzip. Die menschliche Stimme.
weit gemeinsam ist. Umgekehrt ist Neschamah der Träger seiner
Geistigkeit, die Brücke seines himmlischen Zusammenhangs, das Organ
sozusagen seines gottentstammten Wesens selbst. Und als verbindendes
Element zwischen beiden erscheint Ruach, das Organ des in sich
kreisenden menschlichen Innenlebens, der Odem der individuellen Seelen-
substanz, die nur einen abgetrennten Teil bildet des universellen geistigen
Lebensodems, von dem sie auch den Namen hat, der Träger des
intellektuellen Denkens und gemüthaften Fühlens.
In Wirklichkeit bilden aber diese drei Glieder doch nicht eigentlich
„Teile" der Seele, deren Wesen unteilbare Einheit ist, und ihre Wirk-
samkeiten durchdringen einander bis zur Identität. So findet sich im
menschlichen Abbild jenes Urverhältnis wieder, daß drei Wesensmächte
doch nur ein einziges Wesen bilden. Für diese, im Falle der Seele
individuelle Einheit wird nun auch ein vierter Name der Seele verwendet:
„Jechidah", die „Einzige", weil nie außer sich selbst wiederholte. Und
der Sohar kennt auch noch einen fünften Namen: ,,Chajah", ein seelen-
ähnliches, rein vitales Prinzip bezeichnend, die Gesamtheit gleichsam
alles individuellen Lebens, das auf geheimnisvolle Weise von den
,,Chajoth" des Ezechiel (gewöhnlich als ,, Tierwesen" übersetzt), den
Trägern erhabensten kosmischen Lebens, seinen letzten Ursprung hat.
Noch in anderer Weise als im Zusammenhange der Seele spiegelt
sich in der Natur des Menschen das Prinzip dreigeeinter Geistigkeit:
in der Stimme, welche gewissermaßen als das geistigste Element
innerhalb seines körperlichen Daseins zu betrachten ist. Und zwar
erscheinen in ihr einerseits, was durch die Buchstabenzerlegung von ,,Omer"
(„Wort") angedeutet wird, die drei höheren Naturelemente: Feuer,
Wasser, Luft zu einer Einheit verbunden, die sidi andererseits wieder
auf höherer, sinnvoller Stufe als Dreiheit von Hauch, Stimme und Wort
manifestiert. Die gnostische Bezeichnung des himmlischen „Wortes" will
möglichst konkret genommen werden: das lauterste oder geläutertste
menschliche Wort bildet seine unmittelbare Ausprägung und Fortsetzung.
Mit diesem Symbole aber, das zugleich Wirklichkeit ist, wird ein
Gebiet betreten, darin in tiefster Innerlichkeit Menschliches und Gött-
liches verbunden erscheinen. Denn Mittelpunkt und eigentlichstes Wesen
des Menschen sind in jenem Unaussprechlichen zu suchen, das doch
wieder für jeden einzelnen Menschen in dem Worte ,,ich" sich selbst
zur Aussprache bringt, das aber in seinem wahren Sinne ein Universelles,
ja vielleicht die tiefste faßbare Wirklichkeit des Universellen bildet.
. Ich und Gottheit. Der Mensdi als Wahrheitswesen. 33
In einem modernen theosophischen Buche wird zum Ausgangspunkte
tieferer Besinnung die Tatsache gemacht, daß der Name „ich" nie von
außen an den Menschen dringen kann.* Mit diesem Namen benennt sich
die menschliche Pforte zu jenem Urgöttlichen, auf welches auch in der
schon erwähnten Deutung des ,,Mi" als eines Wesens, das nichts als
Subjekt ist, hingewiesen wird. Und der Sohar deutet geradezu das aus-
gesprochene „Ich" mancher Bibelstellen auf Gott, wie zum Beispiel im
ersten der zehn Gebote mit „Anochi" nicht das sprechende Ich, sondern
das Ich schlechthin gemeint sei. Und so enthält ja auch ,,£hejeh", der
höchste der Gottesnamen, mit dem Wortstamm des Seins noch die
sprachliche Form des „Ich" in sich.
Hiemit hängt ein Weiteres zusammen, die rein geistige Höhe des
Menschenwesens in konkreter und absoluter Form zugleich bezeichnend :
die unmittelbare Beziehung seines Seins zur Wahrheit. Diese
Beziehung ist es aber, die eigentlich allein als ,, Glaube" zu
benennen ist. Im Hebräischen sind die Worte „Wahrheit" und
„Glaube" („Emet" und „Emunah") unmittelbar sprachverwandt.
Und in der Sprache des Sohar wird der Zusammenhang der geläuterten
Menschen mit den oberen Welten durch keine Benennung unmittelbarer
klargemacht, als durch diejenige der „Benej Mehimnutha", was auch,
in weiterer Konsequenz jener Einheit von Wahrheit und Glaube, soviel
als ,, Söhne der Treue" bezeichnet.
Glaube aber bedeutet keineswegs einen bloß subjektiven, für das
sonstige Dasein des Menschen und umsomehr der Welt gleichgültigen
Vorgang, sondern im Gegenteil: die tiefste aktive Realität des geistigen
Menschenlebens schlechthin. Ja eine Realität für den Menschen nicht
bloß, dem sich durch die Teilnahme seines Wesens am Ewig-Wahren,
wie dies ja auch den Kern der Platonischen Philosophie bildet, am
unmittelbarsten seine Ewigkeit, das heißt sein überzeitliches Wesen
verbürgt, sondern auch für die Dinge selbst, für die es in ihrer geistigen
Wirklichkeit etwas zu bedeuten scheint, ob sie in ihrem eigenen, richtigen
Lichte gesehen werden oder nicht. Der Sohar spricht diesen merkwürdigen
Gedanken in der schlichten Wendung aus: ,,die Dinge an ihre Stelle
setzen".** Die Erkenntnis weist gleichsam wie eine ferne Wiederholung des
ideenhaften Schöpfungsaktes noch einmal den Dingen die ihrem Wesen
* Rudolf Steiner: „Die Geheimwissenschaft im Umriß". 4. Auflage. S. 31.
""" Eine ähnliche Wendung findet sich auch im ersten Kapitel des Buches
Jezirah.
34 Erkenntnis als wirkende Tat.
■■I I I I ■■■ !■ Mll. !!■ I I I 11—11 ■ ■—■■ .., 11 »■■■ -— ■ ■ U M» i ■ I ■■■II I I I I m « !■■ I I IM^— ^M^— ^B^— ■■■■■■■ ■ ■!■■■
nach ihnen zukommende Stelle im Zusammenhange des Universums. Und
die Wirrnis der Erkenntnis erregt gewissermaßen Wirrnis in den geistigen
Konstellationen der Dinge selbst.
In unserer Denkmethodik an subjektivistischen Erkenntnistheorien
aufgewachsen, wird es uns schwer, in diese Art von Erkenntnisrealismus
uns einzuleben, die auch den Standpunkt des gewöhnlich so genannten
erkenntnistheoretischen Realismus, wonach wir die Wirklichkeit der
Dinge als solche zu erkennen vermögen, noch weit hinter sich läßt.
Liegt es doch, sollte man meinen, in der Erkenntnis eigenster Natur,
ihre Objekte nicht selber zu beeinflussen oder zu verändern 1 Aber es
geht eben hier nicht um ein Verändern, freilich auch nicht um ein Erkennen
im gewöhnlichcui empirischen Verstände. Es könnte hier etwa angeknüpft
werden an den Gedanken Fi cht es, wonach die Erkenntnis des eigenen
Ich in nichts anderem besteht als in einer aktiven Ergreifung, ja
Erweckung dieses Ich selber, oder daran, daß in allen tieferen geistigen
Fragen jedes Erkennen zugleich ein Bekennen, das heißt zunächst eine
Tat des eigenen Ich darstellt, daß aber auch bei Gegenständen wahr-
hafter geistiger Entscheidung, also namentlich in Fragen des Mutes und
des Vertrauens, jene geistige Willenshaltung, die nach der einen Seite
Erkenntnis ist, nach der anderen zugleich eine Kraft darstellt, welche
wirklich ihre Objekte selber zu verändern vermag.* So wird die tiefere
Tat des Erkennens wahrhaftig auch Tat. Und es ist des Menschen
Wahrheit und Lauterkeit bestimmend für die Wahrheit und Lauterkeit
der Dinge, des Menschen Irrnis und Wirrnis mitverantwortlich für Irrnis
und Wirrnis der Welt.
Damit tritt die Betrachtung der menschlichen Natur in jenen Aspekt,
den wir heute als den „ethischen" zu bezeichnen pflegen. Zugleich
jedoch wird klar, daß hier eine Ethik vorliegt, die, weil ihre Wurzeln
bis an die tiefste Vereinigungsstelle des Göttlichen und Menschlichen
reichen, mit dem Begriffe des „SoUens" lange nicht zu erschöpfen ist.
Die namentlich seit Kant üblich gewordene Zweiteilung der Menschen-
natur in eine theoretische und praktische Seite muß für eine Ethik im
Sinne des Sohar fallen gelassen werden. Oder vielmehr: es erscheinen
* Der amerikanische Psycholog' William James bekennt (in der Schrift:
„Der Wille zum Glauben"), daß es Fälle gibt, wo eine Tatsache nicht eintreten
kann, wenn nicht im voraus ein Glaube an ihr Eintreten vorhanden ist, wobei
ganz konkret „der Glaube an die Tatsache bei Hervorbringung dieser Tatsache
selbst mitwirkt*.
Ethischer Realismus. Der gute und der böse Trieb. 35
diese beiden Seiten des Menschen in ihrem Urgründe wie in ihren
Hohen untrennbar miteinander verbunden. Natürlich liegt eine erkenntnis-
theoretische Erörterung dieses Zusammenhangs außerhalb der Begriffswelt
des Sohar. Sie sollte hier nur dazu dienen, den tiefen Ernst der
Realität, der solcher Art von Ethik ihr Gepräge gibt, zu beleuchten
und auf eine Grundanschauung hinzuweisen, wonach es gerade des
Menschen Wahrheitswesen ist, das ihn real mit Geist und Gott
verbindet, daß seine Beziehung zur Wahrheit für sein und der Welt
Wohl und Wehe von fundamentaler Bedeutung ist.
Wie nun die ethische Haltung des Menschen durch seinen Zusammen-
hang mit über- und untermenschlichen Welten, bei voller Freiheit sittlicher
Entscheidung, doch mitbedingt ist und wieder rückwirkend, von seiner
Tat aus, diesen Zusammenhang mitbedingt, das stellt sich dem Sohar
als Wirksamkeit übersinnlicher Wesen dar, welche also gleichfalls in
ethischer Zweiheit gedacht sind, womit denn freilich die Urscheidung
des Guten und Bösen, wie dies bereits erwähnt wurde, in den geistigen
Kosmos selber verlegt wird. Den diesbezüglichen Vorstellungen des
Sohar können wir vielleicht näherkommen, wenn wir sie in Vergleich
setzen zu den beiden typischen und extremen Auffassungen des Ethischen :
der einen, wonadi audi das ethische Verhalten des Menschen wie sein
natürliches durch eine Art mechanischer Kausalität restlos von außen
und innen bestimmt wird, und der anderen, welche eine innere Auto-
nomie, die Möglichkeit freier Selbstbestimmung, behauptet. Mit allen
nichtnaturalistischen, ethischen Systemen anerkennt der Sohar die Wahl-
freiheit des Menschen. Aber gerade innerhalb der Wirkungskreise der-
selben zeigen die tiefsten Erfahrungen, wie die Kraft des Guten, einmal
entzündet, auf eine geheimnisvolle Weise ohne Zutun des Menschen in
ihm selber schon sich steigert und auch wieder immer leichter die Wege
der Verwirklichung findet, und wie umgekehrt das Böse auch in sich
selber »fortzeugend Böses muß gebären." Ja auch die ersten Antriebe
selbst zum Guten oder zum Bösen stellen sich als Kräfte dar, die mit
willkürlicher Wahl gar nichts zu tun haben, vielmehr an den Menschen
wie außer ihm befindliche Naturmächte und dennoch von innen her
herantreten, um aber erst durch die Macht seiner Entscheidung gleichsam
zu physischer Existenz zu gelangen. Die volkstümlidie Ethik spricht vom
„guten" und „bösen Trieb", aber auch für den Sohar sind dies zwei ständige
und als reale Wesen zu betrachtende Begleiter des menschlichen Lebens-
pfades. Aber sie erscheinen hier nicht in einem inselartig isolierten
3*
36 Die Ewigkeit der Seele. Geburt und Tod. Die Lehre vom „Ibbur".
Bereiche des Sittlichen, sondern als Abgesandte zweier Welten, deren
mit jenen verwandte Heils- und Unheilswesen ihre Wirksamkeit über
das Ethische hinaus in alle Reiche des Daseins erstredcen. Mit seinem
eigenen Verhalten nimmt der Mensch teil an dem Heils- und Unheils-
wirken dieser Wesen und Wesensreiche. Seine Sünde hemmt den gött-
lichen Gnadenstrom, sein Aufstieg wirkt stärkend am Weltenwerke selber.
So erhält denn schließlich der Lebenslauf des Menschen als solcher
Silin und Bedeutung aus den Wirklichkeitsgründen seiner geistigen
Zusammenhänge und seiner mehr als ethischen Bestimmung. Wie schon
erwähnt, lehrt der Sohar die Ewigkeit der mensdilidhen Seele, und zwar
in dem doppelten Aspekte des vorgeburtlichen Daseins und des Lebens
nadi dem Tode und in der eigentümlichen Beleuchtung des »Gilgul"
oder der Seelenwanderung. Im Lichte dieser Lehre erst wird das Alltägliche
geheimnisvoll und das Rätselvolle offenbar. Geheimnisvolle Schleier
liegen schon über der Geburt des Menschen, und gelegentlidi wird der
Psalmvers: „Wie groß sind Deine Werke, Herr" geradezu auf dieses Wunder
aller Wunder bezogen, dessen Wirklichkeit aber durch Eintritt, Wachstum
und Erwachen der Neschamah im Erdenleibe bezeichnet wird. In geistiger
Gestalt sdiwebt der neue Erdbewohner sdion über seinen Eltern im
Augenblicke der Empfängnis, und diese nodh ätherische Leibesgestalt
erblickt er selbst bereits während seines vorgeburtlichen Weilens im unteren
„Gan Eden". Der Tod hinwiederum besteht nicht nur aus einer Lösung
der Seele vom Leibe, sondern auch aus einer die Sterbestunde lange über-
dauernden, allmählichen Trennung der drei Seelenglieder, von denen nur
Neschamah in den oberen „Gan Eden" einzugehen vermag. Gelegentlich
wird davon gesprochen, daß die bloße Leibesgestalt bis zu einem gewissen
Grade auch nach dem Tode der Seele erhalten bleibt oder daß diese,
um die Dinge der höheren Regionen zu erkennen, mit einer neuen,
feineren Leiblichkeit umkleidet wird.
Aber auch das Leben der Seele innerhalb ihres leiblichen „Gewandes"
ist von komplizierter Art. Am merkwürdigsten in dieser Beziehung
erscheint die Lehre vom „Ibbur" oder der „Seelenschwängerung", wonach
die Seele gewissermaßen nicht immer alleinige Bewohnerin des Leibes
ist, sondern von anderen außerirdischen Seelen gleichsam überschattet
und auf ihrem Lebenswege innerlich begleitet wird, zum Heile der be-
fruchteten, aber auch der befruchtenden Seele, welche ihrerseits durch
die Verbindung mit der Seele eines auf Erden Lebenden eventuell für
sich selbst versäumten Pflichten Genüge zu leisten vermag.
Schlaf und Traum. Einfluß der Gestirne und Wahlfreiheit. 37
Unter den täglidhen Lebensvorgängen erscheint vor allem der Schlaf
geheimnisumwoben. Da „verkostet" der Mensch „den Geschmack des Todes",
und Vorgänge, welche der Seele nach dem Tode bevorstehen, wie das
himmlische Gericht oder der Aufstieg in höhere Daseinsregionen, voll-
ziehen sich da alltäglich schon in vorübergehender Weise. Eine engere
Verbindung an Übersinnliches bedeutet wiederum der Traum, ja er
darf manchmal als eine niedrigere Stufe der Prophetie betrachtet werden.
Der Dämmerzustand des Schlafes endlich bietet auch das riditige Angriffs-
gebiet für manche Impulse guter und noch mehr schlimmer Art, die von
übersinnlichen Wesen kommen. Aber in voller Macht enthüllt sich das
nächtliche Geheimnis erst dem Wachenden, namentlich dem Frommen,
der in der Mitternachtsstunde dem Studium der göttlichen Lehre obliegt.
Zu den Geheimnissen des Menschenlebens kann auch der Einfluß der
Gestirne gerechnet werden. Dieser besteht nicht bloß in Bezug auf
Schicksalslauf, sondern audi auf gewisse Typen des Menschen. Da der
Sohar ebenso wie Aristoteles Planetengeister kennt, die Tierkreiszeichen
und Planeten wiederum zu den Sefiroth und Engeln, zu den Völkern,
zu Organen des menschlichen Körpers in Beziehung setzt, so ergibt sich
hier wieder eine Fülle von Zusammenhängen, die nur in ihrem Grunde
nidbt als physisdier, sondern als geistiger Art aufgefaßt werden wollen.
Aber im Gegensatze zur Astrologie der „Völker" setzt die Lehre
des Sohar wie schon der Talmud dem Wirkungsgebiete astrologischer
Gesetze eine bedeutsame Grenze: die Wahl fr ei hei t des Menschen oder
genauer gesprochen: die ganze Welt des rein Menschlichen, der religiös-
ethischen Impulse. ■
So konvergieren von allen Seiten die Bedeutsamkeiten des Lebens
nach seinem Zentralgebiet. Wie eigentlich alles in diesen Aspekt ein-
bezogen wird, zeigen Anschauungen wie jene, wonach auch die Organe
des menschlichen Körpers, ja selbst die vier Elemente den Sdieidungen
und Wirkungen des Guten und Bösen unterworfen sind. Und wie
wichtig trotz des überirdischen Ausblicks gerade das irdische Leben
in der Aufgabe seiner sittlichen Gestaltung genommen wird, spiegelt
sich vor allem in dem hohen und gewaltigen Ernste, mit dem all jene
Dinge betrachtet werden, die mit der physischen Zeugung des Mensdhen
in Verbindung stehen. Man hat an dem nicht selten verwendeten Symbol
der Geschlechtsvereinigung zur Darstellung tiefster geistiger Weltvor-
gänge vielfach Anstoß genommen. Aber man kann nur mit innerster
Reinheit die erhabene Reinheit solcher Symbole erfassen. Und wer
38 Geschlechtssymbol und Ehe. Ethik und Religion.
dieselben anstößig findet, halte nur daneben den Ernst einer Auffassung
über das Geschlechtsleben des Menschen, welche für dasselbe das Ideal
hinstellt: Abbild jener himmlisdien Vorgänge zu sein, die Heil und
Wonne aller Welten bilden. Die Weihe der Ehe wird dadurdi gekenn-
zeidinet, daß Mann und Frau nicht nur vorgeburtlich für einander
bestimmt, sondern bereits ein zusammengehöriges Seelenpaar waren, daß
erst der Herabstieg auf die Erde die Vereinsamung der einzelnen Seelen
nach sidi zieht und nur das richtige Verhalten des Menschen ihn würdig
madit, die Gattenseele auf Erden zu finden. Die Zeugung von Nadi-
kommen wird dem Manne geradezu zur Pflicht gemadit, und es bleiben
ihm, wenn er nicht in diesem Sinne seinen Teil am physischen
Schöpfungswerke „gebaut" hat, nach dem Tode gewisse höhere Daseins-
sphären verschlossen.
Sittliche Gebote freilich wird man in der Darstellung des Sohar recht
selten finden. Denn das unterscheidet ja im Grunde alle ethische von
aller religiösen Fundierung des menschlichen Lebens und Handelns, daß
hier ewige Zusammenhänge auch das bindende Gesetz der Mensdientat
in sich enthalten, während dort diese Zusammenhänge selbst vergessen
und nur durch die Machtform des äußerlichen Gebotes oder des inner-
lichen „Imperativs" ersetzt erscheinen.*" So unterscheidet sich auch die
ethische Lehre des Sohar von allen bloßen Pflichtlehren, nodi mehr
natürlich von aller endämonistischen Scheinethik. Allerdings führt die
Erfüllung des göttlichen Gesetzes zum höchsten menschlichen Glüdce,
dieses besteht aber auch in nichts anderem als in dem Anschluß an die
Segensströmungen der höheren Welten. Und die Darstellung erhebt sich
jedesmal zu ■ pathetischen Redewendungen, wenn das Los derer gepriesen
wird, die soldien Ansdiluß gefunden haben.
In zweifacher Beziehung aber wird die Lebenstat des Mensdien selbst
entscheidend für die Erreichung eines zweifadi gestuften Ziels: durch
den stetigen Aufstieg und durch die Umkehr. Die Umkehr ist das
Höhere der beiden, ja, in voller Reinheit vollzogen, trägt sie unergründ-
liche Tiefen in sidi. Der wirklich Reuige erringt nach dem Tode höhere
Daseinsstufen als der vollkommenste „Zaddik". Die Umkehr bedeutet
den innersten ethischen Impuls, der den entsdieidenden Impuls der zu
Gott sich zurüdcwendenden Welt in sich birgt.
* Sehr sdiön und klar spricht über das Verhältnis von Religion und Ethik
Nathan Birnbaum in seinem Buche „Um die Ewigkeit".
Zwei Arten des Gebetes. Die Madit der Heiligkeit. 39
Das Ziel aber ist ein mehr allgemein menschlidies oder ein fast über-
menschliches. Wenn im allgemeinen ein Leben der Läuterung dem
Mensdien den harmonischen Anschluß an die himmlischen Welten bringt,
so steht vor dem Geläuterten ein erhabeneres, in seiner Perspektive
unendliches Ziel: selbst mitzuwirken am Gotteswerke. Diese beiden
Ziele wollen nadi der Absicht der mystischen Lehre nicht verwechselt werden.
So lassen sich auch für den höchsten und unmittelbarsten Akt des
religiösen Lebens, für das Gebet, zwei wesentliche Arten unterscheiden,
von denen die eine vielleidit in ihrem Impulse die reinste, die andere
ihrem Niveau nach die höhere ist: das Gebet des „Armen" und das
Gebet des „Frommen". Dort ist es der völlig Hingegebene, der
„nichts aus sich selber hat", der nur „wie eine Zisterne" sein ganzes
Sein geöffnet hält, um es mit dem Segensstrome des Himmels, mit
Gottes Liebe, zu füllen, hier ist es der Mensch, der „selbst schon zur
Quelle geworden ist", der in immer erweitertem und verstärktem Maße
die Verbindung mit der Bahn der himmlischen Segensströmung selber
vollzieht. Denn nichts anderes ist schließlich wahres Ziel und doch
immer noch Weg des Menschen als Vollzug, Erhaltung und Steigerung
der „Verbindung", und erst diejenigen, für welche diese Verbindung
eine hohe und ständige geworden ist, können mit Recht den Namen
„Söhne der Treue", das heißt der „treuen Verbindung", tragen.
Diese hohe Vollendungsstufe aber bildet zugleich die höchste und
reinste Macht des Mensdien. Man hat sehr häufig eine sozusagen
spezifisch kabbalistische Tätigkeit in einer Art Wort- und Zahlenmagie
erblicken wollen, deren Spuren ja reichlich bis in älteste Zeiten und
auch wieder in die jüngeren Epochen der Kabbala, namentlich der
lurianischen Richtung, hinein zu verfolgen sind. In diesem Sinne erschien
manchen die „praktische Kabbalah" gleichsam als ein System magischer
Künste, zu dem die „theoretische" die Grundlage liefere, und dessen
Reflexe ebenso im Volksaberglauben wie in manchen verworren-okkulti-
stischen Richtungen unserer Zeit noch erkennbar sind. Nichts wäre dem
Geiste jener Lehren widersprechender als seine Tendenz in magische
Praxis oder gar in magische Praktiken münden zu lassen. Nur sehr
hohen Stufen der Lauterkeit erscheint auch die Handhabung der
„Zeichen", der Gebrauch magischer Mittel, aber zu keinen anderen als
reinen Heilungs- und Heileszwecken, angemessen.
Wunder und Wundertat braucht nur, wer kein Organ hat für das
gewaltigste Wunder: das alltägliche Weltgeschehen, und für die wahre
40 Die Entsprechung des Oberen und Unteren. Die wahre Mensdhentat.
Wundertat des Menschen: sein gottgeeintes tägliches Tun. Dennoch
bedeutet beides bereits die Offenbarung eines wunderbaren Zusammen-
hangs der unteren mit den oberen Welten, der eben das Bereich über-
sinnlidier Wirkungen gleichfalls und natürlidierweise einschließt. Dieser
lebendig-aktive Zusammenhang aber ergibt sich unmittelbar aus dem
ganzen kabbalistischen Weltbilde in der Form der wechselseitigen
Entsprechung und Wechselwirkung der oberen und
unteren Welten.
„Was oben ist, ist audi unten und was unten, auch oben": so
lautet einer der bedeutungsvollsten Aussprüche des Sohar, der übrigens
an einen altägyptischen fast wörtlidi anklingt. Und was sich in
einer der beiden Welten begibt, so setzt sich dieser Gedanke fort,
spiegelt sich als Ereignis an der entsprechenden Stelle der andern, wie
wenn etwa ein Gegenstand und sein Spiegelbild nicht nur optisch,
sondern auch in geheimer Wirklichkeit verbunden wären. Nach diesem
Gesetze nun wirkt nicht bloß die obere auf die untere Welt, sondern
vermag auch das einzige zum Geiste erwachte Wesen der letzteren: der
Mensch, auf das Geschehen in den höheren Sphären Einfluß zu üben.
Diese kosmische Tat, die vom Menschen ausgeht, hat aber ein drei-
faches Ziel. Sie ist vor allem rückwirkend in Bezug auf die Menschen-
welt selbst und eigentlich doch wieder in derselben beschlossen, inso-
fern es eigentlich dem Menschen verwandte Daseinssphären sind, in
welche die menschlichen Wirkungen sich erstrecken. Und es ist die
Fülle und die Kraft der aus diesen Sphären kommenden Segensgabe
selbst davon abhängig, was sie von unten her, vom Menschen empfangen.
Aber damit erscheint diese letztere Wirkung auch wieder segensvoll
für die Erfüllung des Gotteswerkes selbst — eine Auffassung, der wir
wieder in der deutschen Mystik, namentlich bei Angelus Silesius
begegnen — und so wird der zwiefach gerichtete und dennoch ein-
deutige Sinn des „Segens" klar, der' auch in der Bibel in tiefsinniger
Weise in dieser zwiefachen Richtung uns entgegentritt.
Endlich dringt die Wirkung des Menschen in der Richtung des
Gotteswerkes und gerade als sein Anteil desselben in jene Regionen,
die unter ihm sind oder eigentlich erst dadurch, daß er in seinen
Kämpfen Sieger wird, ihm Untertan werden. In diesem „Segen nach
oben und unten" erfüllt sich der wahre Aufstieg, die wahre Tat, die
wahre Magie des Menschenwesens. Hier zeigt sich eine ferne Vollendung,
die doch selbst wieder nur die Perspektive der Unendlichkeit eröffnen
Das Zentrum des Mensdilichen. 41
müßte. Am mächtigsten drückt dies der Sohar aus, wenn er die
Frommen die reifsten Früchte Gottes nennt. Und höchste Reife besteht
darin, daß „die Frommen" selber das Opfer und die Versöhnung der
Welt bilden. An diesem Punkte fehlt auch nicht die Anknüpfung
an das messianische Vorbild. Dem Sohar ist die Vorstellung nicht
fremd, daß der Messias der „Sohn der Schmerzen" ist, daß er die
Last der Welt in sich vereinigt und überwindet. Dodi wird dieser
paulinisch anklingende Gedanke in ein anderes Niveau als das der
stellvertretenden Erlösung gehoben durch die Betonung des geistig-
organischen Wesenszusammenhanges, in Anknüpfung an eine alte
medizinische Vorstellung, wonach die Schmerzen eines Organs die
Genesung des ganzen Organismus nach sich ziehen. Und auf ver-
borgene Weise wird, worauf bereits hingewiesen wurde, durch den
Doppelsinn des Wortes „Zaddik" jene Höhe des Menschenreiches an-
gedeutet, auf welcher die Vermenschlichung des göttlichen und die
Vergöttlichung des menschlichen Wesens zusammentreffen.
Und damit erscheinen die Lehren vom Gotteswerk und Menschen-
wesen gleichsam in einem Brennpunkte vereinigt, der auch wieder
durch die messianische Idee göttlich-menschlicher Mittlung von innen
her sein Licht erhält. Aber diese zentrale Stelle der Soharlehre bedarf
noch der Ergänzung von einer anderen Seite her, durch die Idee des
Bundes, das heißt der Gottverbundenheit, im Gesamtleben Israels und
der Menschheit.
Der Bund Israels.
Der Sinn der auf den Menschen bezogenen Lehre des Sohar wäre
einseitig und daher falsch erfaßt, wollte man ihn auf Aufstieg und
Vollendung des einzelnen beschränken. Moderner Individualismus und
auch jener mystische Individualismus, der vom tiefen Ich-Erlebnis aus
den Anschluß an die Menschengemeinschaft nicht mehr finden kann,
ist der Mystik des Judentums überhaupt fremd. Im Gegenteil gipfelt
diese in gewissem Sinne in der Vollendung und Vertiefung, das heißt
in Heil und Heiligung des menschlichen Gemeinschaftslebens.
Bedeutungsvoll in dieser Beziehung erscheint es, daß jenes Urprinzip,
das uns in verschiedenen Aspekten bereits als „Reich", als „Mutter"
oder als ,,Schechinah" begegnet ist, auch „Kenesseth Jissrael", Ge-
42 Die Menschheit und das Volk Israel.
meinsdiaft Israels benannt wird. Hier erhebt sich aber eine ein-
schneidende Vorfrage. Ist denn wirklidh der Gottesbund auf Israel
beschränkt, erscheint dieses Volk allein zum Heile auserlesen? Aber
schon die Beziehung jenes Namens auf eine der Weltpotenzen macht
diese Auffassung unglaubhaft, ebenso wie die selbstverständliche Tatsache,
daß Adam ha-Rischon und Adam Kadmon, auf welche denn doch Quelle
und Ziel alles menschlichen Heiles zurückgehen, irdische und himmlisdie
Urväter des Mensdiengescfalechts und doch nidit bloß Israels bezeichnen.
So ließe sich denn im Gegenteile vermuten, daß der Name „Israel"
in den Zusammenhängen der mystisdien Lehre überhaupt keine Be-
ziehung zur speziellen Konkretheit dieses Volkes enthalte, sondern
nur symbolische Bezeidinung für die Menschheit sei, etwa in der
Tendenz, den in seiner Reinheit schwer zugänglichen Menschheits-
gedanken in eine populäre nationale Form zu kleiden? Aber auch diese
Auffassung wäre der Absicht der mystischen Lehre nicht adäquat.
Israel ist in derartigen Benennungen Symbol, aber auch Wirklichkeit
zugleich, wenn die Wirklichkeit des Volkes selber in seiner Geschichte,
im Wirken seines Geistes, in seiner geistgebundenen nationalen Lebens-
führung, ja in seiner Erhebung und Schuld, in seinen Verzweiflungen
und Hoffnungen, kurz in all seinen Gottfernen und Gottnähen nichts
anderes ist als Symbol, das heißt konkretes, vorbildliches und zentrales
Beispiel des Universalweges der Menschheit, herabreichend bis zum Ur-
zustände des ersten Menschen und in die Zukunft zielend bis zur
Erfüllung des Heiles, bis zur vollen Heiligung des menschlich-mensch-
heitlichen Lebens.
Wenn wir aber so in Israels Art und Schicksal gleidisam die Mensdi-
heit selbst in Verdichtung erkennen können, so wird unser Blidc frei
für die doppelte und doch in Einheit wieder zusammentreffende Deutung
jenes tiefen Zusammenhanges, den uns die Bibel als den Bund Gottes
mit Israel darstellt : auf den gottgewollten Weg der Menschheit und auf
die tiefsten Daseinshintergründe dieses einen Volkes.
So stellt sich uns denn auch der Sohar dar: nicht bloß seiner
Methode nach als Deutung des Bibeltextes, sondern auch seinem
gleichsam kosmisch-historisch gewendeten Inhalte nach als Deutung der
biblischen Geschichte, nur die Grenzen derselben beiderseits über-
schreitend: in die ur- und überirdischen Heimatssphären des Menschen
und durch die nachbiblischen Zeiten hindurch zu den verborgenen
Spuren fernster Heileszukunft.
^ Der Sinn der biblischen Geschichte. Urzeit. Erzväter. 43
Im Lichte der mystischen Lehre erscheint die bibh'sche Geschichte
zunächst in jenen älteren Partien, wo Symbolik und Realität am
schwersten auseinanderzuhalten sind, und wiederum in den Höhepunkten
der theokratisch-nationalen Epoche nicht als ein bloß zufälliger oder
auch selbst bloß pragmatischer Zusammenhang, sondern als sinnvolle,
ja gotterfüllte Entwicklung.
Durch die Urtatsache des Sündenfalls geht der zeitlos-selige Ur-
zustand der Menschheit über in den zeitlichen Sinn des inneren Kampfes,
der in immer neuen Kräften sich emporringenden ,, Umkehr", der immer
höher sich stufenden Gotteserkenntnis, Gottesfurcht und Gotteseinung.
Epochen des Verfalls und des Aufstiegs wechseln miteinander, erstere
bestimmt durch das Walten des bösen Prinzips, letztere durch einzelne
Menschen, welche für sich die Verbindung des Menschlichen und Gött-
lichen vollzogen haben und noch mehr durch ihr irdisches Dasein selbst als
durch äußere Werke gestaltenden Einfluß üben auf das Heil der Erde.
Während aber Erscheinungen wie C h a n o c h und N o a c h noch einen
Abglanz urzeitlichen Paradieseszustands an sich tragen, wird der zeiten-
besiegelnde und in Generationsketten sich immer erneuernde Bund,
der allerdings mit Noach schon beginnt, konkreter erst in Gestalt und
Leben der Erzväter. Sie vertreten in gewisser Beziehung die Dreiheit der
himmlischen Urpotenzen selber in irdischer Verwirklichung : Abraham
die „Säule der Liebe", Isak jene der Strenge; Jakob, namentlich auf
jener Stufe, auf der er „Israel" geworden ist, vereinigt und vollendet
die beiden im Zeichen der Wahrheit. Schon die Agada verlegt die
Erschaffung der Erzväter in die Schöpfung selbst, wie auch der Name
Abrahams durch künstliche Wortdeutung schon im Schöpfungsberichte
gefunden wird. Geheimnisvoll erscheinen insbesondere die Wanderungen
der Patriarchen, vorwegnehmend späteres Schicksal des Volkes Israel,
das wieder geographisch-historisch zwischen Babel und Mizrajim einge-
stellt ist, geheimnisvoll Begegnungen (zum Beispiel Abrahams mit
Malkizedek), Namen, Zahlen. Länder und Orte bezeichnen oft nur be-
stimmte Typen geistiger Einwirkungen, so zum Beispiel solche der
Verdunklung und Versuchung, welche aber auf dem Wege zu Gott
doch wieder notwendige Wanderstufen sind, aus denen der gottsuchende
Trieb nur neue Kräfte holt zu immer erhöhtem Aufstieg. Wie die ver-
schiedenen Gottesnamen, so entsprechen die verschiedenen Formen
göttlicher Erscheinung verschiedenen Stufen der Offenbarung, je nach
Art und Grad der bereits erworbenen Gottempfänglichkeit. Von anderer
44 ■■ Moses. Offenbarung und Erwahlung .
Art sind nicht nur die Offenbarungen Gottes an Abraham und an
Jakob, sondern z. B. auch die beiden Erscheinungen Jakobs in „Betel" vor
und nach dem entscheidenden Kampfe mit jenem Wesen, das in der
Bibel bloß als „Mann" bezeichnet wird. Wie in den Hauptgestalten
Hauptmächte kosmischen und menschlidien Lebens, so bringen sich auch
in gewissen Gegen- und Nebengestalten Mächte der „anderen Seite"
oder ergänzenden Wesens zum Ausdrude. So entsprechen z. B. Kajin,
Terach, Lot, Laban, Esau, Kanaan auf verschiedenen Stufen dem Prinzip
der „anderen Seite", Sarah, Rebekka, Rachel und Leah gewissen weib-
lidien Urmächten. Zu den Erzvätern tritt dann insbesondere die Gestalt
des Josef, welche, wie manchmal auch Adam und König David, die
Dreiheit zur Vierheit ergänzt und, in die Teilung der zwölf Stämme
zentral hineingestellt, in besonderem Maße die Hoffnung der Zukunft
bildet. Die siebzig Seelen der israelitischen Urfamilie entsprechen aber
wieder genau den siebzig Völkern, welche den Körper der Menschheit
z usammensetzen .
Denn den Hauptinhalt der Offenbarungen jener Geschiditsstufe bildet
die aus dem Geiste bestimmte geneälogisdie Erzeugung des Volkes
Israel, welche den mehr physisch bedingten Genealogien der anderen
Völker sich anreiht und in der Offenbarung jenes Geistes, der bis dahin nur
den Vätern des Volkes sich kund getan, an das Volk selbst Krönung
und Abschluß findet. So bildet denn auch Moses, der in einem gewissen
Anklang an eine christlidie Benennung Jesu, wahrscheinlich aber unab-
hängig von derselben der „treue Hirte" (Ra'aja Mehimna) genannt wird,
die Zentralgestalt des Volksgeistes, in dessen Entstehung gleichsam, welche
zugleich die Entstehung des Volkes selber ist. Es wurde mit Recht von
Edouard Schure"' betont, daß die einzigartige Größe dieses Mannes
gar nicht darin bestanden habe, für ein Volk eine Religion, sondern viel-
mehr darin, für eine Religion ein Volk gesdiaffen zu haben. Im Sinne der
jüdischen Lehre wurde das Volk natürlidi nicht durch die, wenn auch
noch so hochragende Gestalt seines Führers geschaffen, aber
Israel ist audi nicht durch physische oder politische Ursachen aus
indifferenten Geschlechterfolgen zum Volke geworden, sondern durch einen
Akt der Erwählung. Aber diese Erwählung darf audi wieder nicht im
Sinne einer besonderen und einzigen Naturanlage gedeutet werden,
da sie ja eben überhaupt keinen physischen Grund hat, sondern einen
Im Kapitel „Moses^ seines Buches: „Die großen Eingeweihten".
Der Sinn der Auserwähitheit. David. Das heilige Land. 45
geistig-geschichtlichen. Zu nationaler Selbstüberhebung kann der Aus-
erwähltheitsgedanke nur führen, wenn der Bund aufgefaßt wird als
Erwählung eines sdion irgendwie für sie natürlich prädestinierten Volkstums.
Der Sinn gerade der vormosaischen biblischen Geschichte ist aber der, daß
dieser Bund, der im innersten Sinne ein Bund Gottes mit der Mensdiheit
ist, dieses Volk überhaupt erst als „Gottesvolk" entstehen ließ, daß es
dann freilidi, weil ganz aus dem Schöße des Geistes entsprungen,
in ganz anderer Weise und in ganz anderem Grade als andere Völker
an Höhe und Würdigkeit, an Verpflichtungen und Ahndungen geistigen
Lebens gebunden erscheint. Selbstverständlich würde man aber andrerseits
in solchen Auffassungen vergeblich eine Begründung dafür sudien, daß
die natürlidien, das heißt aber auch die seelischen und geistigen Anlagen
dieses Volkes nun gerade als minderwertig gegenüber denen anderer Völker
zu gelten hätten, ein Standpunkt, den noch oder bereits Schiller in seiner
„Sendung Mosis" vertreten hat. Gehört ja doch ein gewisser Höhegrad
nationaler Seelenverfassung, wovon richtiger zu sprechen wäre als von
vagen „Anlagen", dazu, um, wenn auch im ewigen Widerstreit, ja in
immer sich wiederholender Aufbäumung gegen den Geist, in einem
besonderen Sinne innerhalb der Menschheit dessen nationalen Träger
zu bilden.
Für die spätere Zeit tritt dann namentlich die Gestalt des Königs David
in ein besonderes Verhältnis zum Gottesbunde, nidit bloß durdi den
Bau des Heiligtums, das die sichtbare Einheit von Gott und Volk am
deutlichsten bekundet, sondern auch vermöge einer durch den Namen
der Stadt Chebron vermittelten geheimen Beziehung zu den Erzvätern,
mit denen er die Vierheit des von Ezediiel erschauten göttlichen Thron-
wagens ergänzt, ja zu Adam selbst, von dem er nadi agadistischer
Deutung dessen auf tausend fehlende Lebensjahre gewonnen hat, vor
allem aber durch das in den Psalmen gegebene Vorbild vollendeter
innerer Umkehr.
Und, wiederum gilt das heilige Land als Symbol der himmlisch-
irdischen Vollendung. Es ersdieint als erhöhtes Zentrum der Erde und
Jerusalem als Zentrum dieses Zentrums, wiederum mit dem Heiligtume
in der Mitte. Die Substanz dieses Landes ist wie die des Menschen
aus Teilen der ganzen Erde zusammengesetzt, wie ja auch die hebräische
Sprache die Spuren der „Schechinah" an sich trägt. In geheimnisvoller
Weise erscheint wieder Malkizedek, der heidnische, aber gottbewußte
Bundesgenosse Abrahams, bereits als König von Jerusalem. Der Name
46 Das Exil des Volkes und der »Schediinah".
„Zion" aber wird geradezu zu einem der Namen der Sphäre des
„Reidies". Die Liebe des „Königs" zur „Königin" ist die Liebe Gottes
zu MZion" oder jener Urmadit, die audi „Schalom", Friede oder Voll-
endung, genannt wird, zu „Sdiulamith", welche im hohen Liede, dem
Liede Schelomoh's (Salomo's), besungen wird.
Wie die Wüste für Israel den Tiefpunkt seiner Gottentrüdctheit, so
bezeidinet das heilige Land den im Überzeitlichen begründeten, aber
ganz im Irdischen sich manifestierenden Zustand seiner GotterfüUtheit,
dessen äußerlich sichtbare Form der gottesstaatliche Organismus bildet.
Aber durdi Schuld und Verhängnis muß zeitweilig die Herrlichkeit
von Zion weidien. Israel selbst hat, indem es die göttlidhe Lehre ver-
nadilässigte, den Bund und dessen siditbare Zeidben: Tempel und Land,
entweiht. So wurde denn auch sein Sdhicksal losgerissen von nationaler
Gottverbundenheit, und im Dunkel der Erniedrigung sog es Nahrung von
»anderer Macht". Aber nicht nur Israel geht in die Verbannung, sondern
die Schechinah, die sich hier als innerste Seele des Volkes selbst ent-
hüllt, mit ihm. Ja inniger als um die „Verbannung" (Galuth) schlechthin
ist die Trauer um diese „Verbannung der Schechinah" (Geluth
Schechinah), die zugleich Verdunklung der Welt ist. Das Band zwisdien
Gatte und Gattin ist unterbrochen, erst für kurze Zeit, dann bis in
unabsehbare Zukunft. Geeinte Wonne verwandelt sich in dreifadie Ver-
einsamung: des Vaters, der Mutter und der Kinder, um welche »Rachel",
ihre Mutter, weint. Von jenem Tage sind die Frommen in ewiger
Wanderschaft. Und für das Volk folgt auf die Verbannungen Mizrajims
und Babels die Zerstreuung in das große Babel, die ungeeinte
Völkerwelt.
Denn auch der Fluch der zeitweiligen Heimlosigkeit Israels gründet
zuletzt in dem Segen der Erwählung und seiner Sonderstellung unter allen
Völkern. Auch Israel hat zwar wie die übrigen Völker einen bestimmten
himmlischen „Fürsten" (Sar), nämlich den Erzengel Michael, doch scheint
sein Schicksal gleichsam unmittelbarer aus dem innersten Quell göttlichen
Schicksals zu erfließen. Der Rolle des Herzens, welches in seiner Klein-
heit und Schwäche das edle Zentralorgan des menschlichen Organismus
bildet, wird Israels Funktion im Völkerorganismus verglichen, der, an
sich noch plump und ungefüg, ohne das Herz zerfallen würde, und in
besonderer Weise auch wieder derjenigen des Messias. Wie dieser im
organischen Zusammenhang des Kosmisch-Menschlichen das universelle
Leid auf sich nimmt und die Läuterung der Welt in sidi konzentriert
Israel als Herz der Völker. Die „Thorah", Studium und Verwirklichung. 47
und dadurch verstärkt, so war es Israel ursprüglich bestimmt, der Völker
Leidenslos auf sich zu nehmen.
Audi wird Israels Schicksal weniger als das anderer Völker durch
astrologische Einflüsse und außer durch göttliche Fürsorge vor
allem durch die Freiheit eigener Entsdieidungen bestimmt. So ergibt
sidi für den Angehörigen dieses Volkes eine ungeheuere Verantwortung
und Mitverantwortung für des Volkes Gesamtschidcsal, gesteigert noch
im Anblidc jener merkwürdigen Wechselbeziehung, vermöge deren das
Schicksal Israels zugleich dasjenige der Schechinah und damit auch
Gottes Schicksal ist.
Hiemit hängt dann auch die hohe Bedeutung zusammen, welche der
„Thor ah" beigemessen wird. „Thorah** ist weit mehr als „Gesetz",
mehr als biblische „Lehre". Schön nach talmudischer Auffassung geht
ja die Thora sogar der Erschaffung der Welt als Urbild voran, wie
die Ideenwelt der Erfüllung der Realität. Und wiederum erscheint
gerade sie auf das engste der Bestimmung des Menschen verbunden,
der nur um ihretwillen erschaffen ward, als das einzige Wesen, das,
hierin sogar den Engeln überlegen, den Sinn der Thorah zu erkennen
und zu erfüllen vermag. Der Sohar wird nicht müde, das Los derer
zu preisen, die ihr Studium und Leben weihen. Das Thorahstudium
hebt den Menschen geradezu über die Macfatsphäre des Schidcsals hin-
aus. Und das Band der Thorah ist es hinwiederum, welches in den
Zeiten der Verbannung dasjenige der Opfer zu ersetzen imstande ist.
In eigentlichstem Sinne aber wird das Studium der Thora erst von
jenen, betrieben, die von den oft geringwertig erscheinenden Oberflächen
der schriftlichen Überlieferung in ihre Tiefen dringen, die nicht bloß
ihr Kleid oder ihren Leib, sondern ihre „Neschamah" ergreifen. Und
wenn die Geläuterten in der Mitternachtsstunde den Geheimnissen der
Thorah nachforschen, empfängt ihre Seelen der Allheilige selbst im
Garten Eden zu wonnigem Spiel. Eine besondere Macht aber wird
neuen Deutungen und Gedanken zugesprochen, die nicht nur in ein
himmlisches Buch eingeschrieben werden, sondern mitwirken an der
Hervorbringung eines »neuen Himmels" und einer „neuen Erde".
Aber die Erfüllung der „Thorah" erscheint doch wieder konkret an
die gesetzliche Formung des Lebens, an die durchseelte Übung der
biblischen Gebote gebunden. Im Zusammenhange eines geistigen Welt-
bildes kann natürlich der Sinn einer rituellen oder zeremoniellen Ver-
pflichtung nur von symbolischer Art sein. Nicht die Bindung des Ge-
48 Per Organismus des religiösen Lebens. Tempel und Opferkult.
setzes, sondern die Weihe seiner Intention stempelt ein Leben der
Gebotserfüllung zum religiösen Leben. Dennoch kann in der konkreten
Fassung des Symbols nadi der Meinung des Sohar nichts Willkürliches
liegen, wie denn sein Sinn erst durch die konkrete Erfüllung auf
Erden und speziell in der Gemeinschaft Israels wahrgemacht wird. So
begründet das religiöse Gesetz gewissermaßen eine eigene, über das
bloß natürlidie Leben hinausreichende Welt. In tausend tiefsinnigen
Deutungen ist die Tendenz erkennbar, das gesamte Formenwesen
namentlidi des alten, audi äußerlidi noch gottverbundenen Judentums
als einen geistig-tatenhaften Organismus aufzufassen, der Glied für Glied
dem Organismus der Natur und dessen tiefstem Inbegriff, dem Organismus
des Mensdienleibes entspricht. Und namentlidi der „treue Hirte" ent-
hält symbolisdie Andeutungen des Ritualgesetzes in weitem Umfange.
Speziell gilt jenes Prinzip unmittelbar für die Zeit des alten Kultus,
da Land und Gottheit noch enge verbunden ersdiienen. Tempel,
Priestertum und Opferwesen bilden gleichsam eine Organisation, die in
der Bahn des Bundes dem geistigen Organismus der Welt und Welt-
bestimmung im Leben des Volkes, das gänzlich Gottes Gemeinde ist,
eine Stätte bereitet und die wieder das Zentrum bildet für ein vom
Religiösen innerlichst beherrschtes Leben dieser Gemeinde.
Zunächst bieten Stiftshütte und Tempel in allen Details von
Räumen, Bestandteilen und Geräten nach Maßen, ja Materialien und Farben,
Symbole höherer Gliederungen. Ferner werden auf Arten, Anlässe und
Gegenstände der Opfer tiefsinnige Deutungen angewendet. Bildet doch
das Opfer eine Überbrückung zwisdien physischem und geistigem Dasein
bis in die materielle Substanz hinein, die, namentlich durch die Ver-
brennung und in feinerer Unmittelbarkeit in den Räucheropfern, aus
dichter Stofflichkeit in höchste Sphären übergeht. Und so vermag denn
das Opfer, wenn es mit der richtigen Opferstimmung der Seele sich
verbindet, deren tiefere Sehnsuchtskräfte im doppelten Wege des Auf-
stieges und der Näherung bis an den Thron der Allmadit zu tragen, oder
genauer: im Sinne der Entsprechung des Unteren und Oberen zu den
dem irdisdien Anlaß parallelen Regionen überirdischen Lebens. Und daß
das Opfer „Wohlgefallen findet", bedeutet nichts anderes, als daß in
seiner Folge neue Segensströme dem Opfernden zufließen.
•Und wieder bieten die Feste eine Fülle der Symbolik: auch hier
mannigfache Beziehungen zu den Sefiroth, zu den Mächten der „Liebe"
und der „Strenge", zu Sonne und Mond und astrologischen Zeidien, vor
■ Feste, Liturgie und Ritus. Der Sabbat. ^
allem zur geistigen Bestimmtheit des Zeitenganges. Insbesondere erscheint
jene Festeszeit, deren erhabene Gipfelungen der Neujahrs- und der Ver-
söhnungstag bilden, dadurch gekennzeichnet, daß die intensivste Macht
des „Gerichtes" durch die verstärkte Macht der Liebe überwunden und
abgelöst wird. Überhaupt erscheint im Rahmen des Gesamtlebens und gar
für das rhythmisch gegliederte religiöse Leben die Ordnung der Zeit als
keine indifferente, sondern gewissermaßen als wesenhaft, wie denn audh
nicht bloß die Feste, sondern auch sonst Tage und Stunden ihr Vorbild
in den oberen Welten haben.
Da nun aber Kultus und Zeremonie doch erst in der Intention ihres
Sinnes diesen erfüllen, so bildet auch wieder das Gebet erst nur die
notwendige Begleitung der Opfer, dann aber auch nach dem Verschwinden
der alten Gottesstaatlidhkeit deren unmittelbaren Ersatz.
Auch der weitverzweigte Organismus der Liturgie wird durdi Begrün-
dung und Deutung der mystischen Lehre lebendig. Namentlich die heiligsten
Gebete, wie das „Schema" oder die „Keduscha" tragen sowohl in ihren
Inhalten wie in der Stellung ihrer Worte, noch mehr aber bezüglich ihrer
rhythmischen Einordnung in den Kanon des Gebetrituals Geheimnisse an sich.
Ja die Art des reinsten Gebetes, dessen Sinn nichts als Lobgesang Gottes
ist, vermag den Menschen mit den Engeln auf gleiche Stufe zu erheben.
Neben dem Gebete sind es die auch im Golus geübten Zeremonien,
welche in ihrer Symbolik den Abglanz des Bundes im Leben des Juden
ständig zu bewahren und zu erneuern bestimmt sind. Zunächst solche,
welche wie gewisse Festesbräuche (z. B. diejenigen des Sukkothfestes) bis
auf die biblische Lehre zurückreichen oder wenigstens an altes Opferwesen
erinnern, speziell auch Zeremonien, die (wie das Tefillinlegen) mit dem
Gebete unmittelbar verbunden sind, dann aber auch alle die ständigen
Tagespflichten religiösen und halbreligiösen Charakters, mit denen der
Jude das »Joch des Malchuth Schamajim", die Verantwortung des „Reiches"
auf sich nimmt.
Es gibt aber kein sichtbareres, tieferes und segen-
erfüllteres Merkmal des Bundes als den Sabbat. Sein Sinn
gründet ja im Rhythmus der Weltsdiöpfung selber, in welchem der
siebente Tag zwar nicht mehr dem Werk, aber einer erhöhten Stufe
desselben, der Vollendung, zugehört. Bedeutungsvolle Zeremonien
scheiden diesen Tag, der irgendwie der Zeitlosigkeit selbst verbunden
ist, von den um ihn kreisenden Tagen der Werktäglichkeit. Der
Sabbat unterscheidet den Menschen von der Natur, Israel von der
50 Der Sabbat als höchstes Lebenssymbol.
Vielheit der Völker. So steht er denn auch gänzlich im Zeichen der
rechten Seite, im Zeichen der Liebe. Alle Madit des Bösen ist da aus-
geschaltet und die Macht der Versöhnung so groß, daß sie auch Unrast
und Qual der bösen Geister und der büßenden Seelen besänftigt. Am Sabbat
gesellt sidh zum Menschen ein himmlischeres Seelenglied, die „Neschamah
jeterah", nach der wörtlidien Bezeidinung eine „übersdiüssige Seele", zu
deren Aufnahme ihn nur die Reinheit der Sabbatstimmung befähigt.
Der göttliche Ursegen des Sabbats ist es insbesondere, der, nicht mehr
auf die Zeit des Gott'esstaates beschränkt, Israel in die Verbannung und
Zerstreuung nachfolgt. So wird denn an ihm die trostreiche Allmilde der
Sdiechinah am unmittelbarsten offenbar, so innig offenbar, daß „Sabbat"
und „Schechinah" sdiließlich in der Benennung der zehnten Sphäre in
eines verschmelzen. Das Symbol des Hohen Liedes, worin nach uralter
Deutung die Liebe Gottes zur Gemeinschaft Israels in Tönen unendlicher
Zartheit und Innigkeit besungen wird, vollendet sich in der verwirklichten
Innigkeit und zarten Glut der Sabbatliebe. So erscheint denn in der
Benennung des Sabbats die Schechinah als „Braut", in der himmlischen
Schönheit immer erneuter Erblühung, in der seligen Hingabe immer ver-
jüngter Hoffnung. Unmittelbarer als jedes irdische Symbol hat denn auch
der Sabbat sein Urbild in der übersinnlichen Welt, der „untere" im
„oberen" Sabbat. Ein Abglanz der Erfüllung ist in der Sabbatwonne
selbst enthalten, in welcher alle Festesweihe zur reinsten Gottesfreudigkeit
erhoben erscheint. Hier binden sich Nächstes und Fernstes, Glüdkseligkeit
des Augenblicks und unendliche Aspekte des Weltgeschehens, welche in
keuscher Wortkargheit angedeutet werden durch die Begriffe des
,,J i c h u d", der Einung, oder genauer: Gotteseinung, und des
,,S c h a 1 o m" oder des Inbegriffs von Friede, Versöhnung und Vollendung.
Und hiemit wird diejenige Seite des Bundesgedankens berührt, welche
am dunkelsten zwar ihrem konkreten Inhalte nach erscheint, aber am
liditvollsten im Hinblick auf die letzte Sehnsucht des Menschen und des
Volkes: die Seite der Zukunftserfüllung. Solange noch durch Zeitenfinsternis
und Verbannung die Schechinah fernen Zusammenhang aufrechterhält mit
der in der Urzeit dem irdischen Geschehen noch eng verbundenen Gottes-
macht, kann auch die Hoffnung der Wiedervereinigung nicht ersterben.
Mit dunklen Bezeichnungen und dunklen Worten zielt der Sohar auf ferne
Geschehnisse, welche in einem Falle überraschender Weise mit Ereignissen
der jüngsten Zeit dironologisch zusammentreffen — bis zu jener fernsten
Zukunft, in der die apokalyptische Hoffnung sich krönt.
Apokalyptisches. 51
Denn ein „Faden der Gnade" zieht sich durch alle Verlorenheit und
Verlassenheit, und wenn Israel nicht aus eigener Kraft, bis zur Höhe des Heiles
sidi erhebend, die volle Rückkehr vollziehen kann, so wird das Heil, nach den
Urmassen der Zeitlichkeit selbst, aus den Heilesquellen erfließen. Unerschüttert
aber durch Verdunklung und Leid bleibt die Gewißheit, daß die „Hütte
Davids", die „Friedenshütte", wieder aufgeriditet, die verstoßene Gattin
an den ihr gebührenden Platz wiedereingesetzt werden wird.
Daß dann aber nicht die alte Form der Gottesstaatlichkeit zur
Wiederherstellung gelangen wird, ja daß diese Form selbst in den
Zeiten des alten Königtums bereits einen Abfall von der wahren, mosaischen
Urform des Gottesbundes bedeutet habe, wird an einer Stelle angedeutet,
wo auf den diesbezüglichen Einwurf eines Heiden zugestanden wird, daß
der Bau eines dritten Tempels, der ja nirgends in der Bibel prophezeit
wird, nicht zu erwarten stehe, daß vielmehr selbst der Bau des ersten
und des zweiten Hauses noch nicht in Wahrheit erfolgt sei, da der einst-
malige Tempel in Jerusalem dodi nur von Menschenhand erbaut wurde.
Nur in fernen Andeutungen wird von der „Ankunft des Messias" *
gesprochen. Die himmlische Region, aus der er kommen soll, wird das
„Vogelnest", als die Stätte seines irdischen Auftretens Galiläa genannt.
Hie und da wird an die talmudische Vorstellung eines zweifachen
Messias angeknüpft und von gewaltigen, die Existenz Israels bedrohenden
Kriegen gesprodhen, welche der Errichtung des letzten Friedensreidies
vorhergehen. Die Vollendung des Heileswerkes vollzieht sich in drei-
facher Abstufung: als Sammlung Israels, als Aufbau des Tempels und
als Belebung der Toten. Und wie in den Visionen der Propheten und
den apokalyptischen Büchern gipfelt der Erlösungsgedanke der Mensch-
heit in kosmisdien, symbolisch-übersinnlichen Vorstellungen, indem in
jenen letzten Kämpfen ein Stern sieben andere verschlingen und nach
den Worten des zweiten Jesaia „das Lidht des Mondes dem der Sonne
gleich werden wird".** Und in jenen Tagen, da die Läuterung nicht nur
des einzelnen, sondern der Menschheit sich vollendet, werden die tiefsten
Geheimnisse zur spielenden Kinderweisheit.
Aber schon auf dem Wege der Vollendung kennzeichnen mehrere
Begriffe, was in vertiefterer Weise unseren verfladiten Fortschritts-
* Darin, daß die Ankunft des Messias : die irdische Verwirklichung des Gott-
menschlichen, zur Gänze an das Ende der Zeiten verlegt wird, liegt wohl eine der
prinzipiellsten Differenzen der kabbalistischen gegenüber der christlichen Lehre.
** Jes. cap. 30, V. 26.
4*
52 Die Begriffe! ^Kijum", „Tikkun" und „Jichud*. Urquell und Urziel.
begriffen im messianischen Aspekte entspredien mag: der Begriff des
„Kijum", des „Bestandes", worunter nicht bloß Welterhaltung im
physischen Sinne, sondern Selbstbewahrung der Dinge in ihrer geistigen
Existenz, sozusagen an ihrer geistigen örtlichkeit zu verstehen ist, und
der Begriff des „Tikkun", was wörtlich „Beriditigung" heißt, aber alle
Art von innerer Förderung einschließt, Förderung auf dem Wege des
Heiles, kämpfendes und siegreiches Wurzelfassen des Geistes, Befreiung,
Hebung und Läuterung zumal. Und endlich stellt der schon heran-
gezogene Begriff des „Jicfaud" die innigste und letzte Tatrichtung dar
zu Gott: Vereinigung des zur Einheit kommenden
Herzens und der z u r Einheit kommenden Welt mit
Gott, dem ewigen Ziel und ewigen Urquell aller Einheit-
Sind Urquell und Urziel denn eigentlich zu trennen? Daß hier über
dem Urschoß aller Zeitlichkeit das tiefste Geheimnis waltet, erscheint
wieder durdi die gelegentliche Bezeichnung der Schechinah als „Zeit"
angedeutet sowie durch die merkwürdige Identifizierung der „oberen"
und der „künftigen" Welt. Ist das künftige Heil ur- und vorbildlich im
Übersinnlichen bereits verwirklicht oder bedarf die übersinnliche Welt
zu ihrer eigenen Erfüllung, ihrem eigenen „Tikkun", der Erfüllung der
Erdenzukunft ? Oder ist für untere und obere Welt die ganze Beziehung
zu dem, was wir „Zeit" nennen, eine verschiedene?
Wir stehen hier vor letzten Fragen, welche auch letzte Fragen in
Bezug auf den Sinn der Lehre des Sohar sind. Aber nodi ist auch
das nah zugängliche Gebiet derselben, selbst in flüchtiger Betrachtung,
nicht ganz durchwandert, solange diese Lehre nur als solche beleuchtet
wird und nicht auch das Eigentümliche ihres literarischen und
historischen Hintergrundes oder besser gesagt: ihrer im Zeitstrom jüdi-
scher Geistesgeschichte in der Form dieses Buches sich offenbarenden
organischen Lebendigkeit.
Buch und Leben.
Der Sohar gehört zu jener Art von Büchern, denen man am wenigsten
gerecht wird, wenn man sie wie literarische Schöpfungen dieses oder
jenes Autors betrachtet, als Werke bestimmten Ursprungs, bestimmten
Inhalts oder bestimmter Tendenz. Sondern Ursprung, Inhalt und Tendenz
Formelemente des Textes und Lebenshintergrund. Der Sohar als Bibelkommentar. 53
wollen hier in einer höheren Einheit verschmelzen, die man in ent-
schiedenerem Sinne als sonst das Leben des Buches nennen könnte.
Dieses aber mag hie und da mehr noch als durch den Inhalt durch die
Form der Darstellung bezeichnet werden oder vielmehr durdi jenes
unsichtbare Band, das zwischen beiden waltet. Nur ist dann unter Form
mehr zu verstehen als etwa bloß Stil und Komposition. Hiezu gehört
in unserem Falle ebenso die Sprache selbst wie der Rhythmus der Dar-
stellung, die Methode des Diskurses und der Exegese, die dürre Lehr-
form wie der Duft des Legendenhaften sowie gewisse kleine Züge
realistischer Anknüpfung, vor allem aber die doppelte Beziehung dieses
Lebens auf ein ihm vorangehendes, dessen urgegebener Geistigkeit es
in der Treue der Tradition nachfolgen will, und ein ihm folgendes, das
seinen Samen weitertragen soll in die Fernen der geistigen Entwidklung.
Als dritter sichtbar-großer literarischer Niederschlag des jüdischen
Geisteslebens steht der Sohar in eigenartiger Beziehung zu den beiden
anderen: der Bibel und dem Talmud. Wie Martin Buber einmal von
einer „Sagenbibel" spricht als der Gesamtheit der älteren jüdischen
Volkssage, die nichts weiter zu sein vorgibt als eine Interpretation der
„Schrift^ in noch innigerem Sinne kann man innerhalb des Judentums
von einer „mystischen Bibel" sprechen, weldie nicht mehr und nicht
weniger beansprucht als die innerste Seele der Schrift zu enthüllen. So
gibt sich denn der Sohar als nichts weiter denn ein Kommentar zum
Pentateudi, mit Ergänzungen zu einigen anderen biblischen Büchern
(zum Hohen Liede, dem Buche Ruth und den Klageliedern) und ver-
gleichender Heranziehung aus fast dem ganzen Bereiche des biblischen
Kanons. Man darf aber auch bezüglich des mit dem Bibeltexte fort-
laufenden Teiles keineswegs an eine vollständige, noch weniger an eine
getreue Kommentierung des Textes denken. In der Regel gibt der Bibel-
vers nur den Anschlagsakkord zu weitläufigen Auseinandersetzungen, welche
gewöhnlich andere, entlegene Bibelsätze zu jenem in Beziehung bringen.
Dann verschwindet oft der textliche Anlaß überhaupt vor der Lebendig-
keit oder Innerlichkeit des eigentlichen Themas.
Gewisse Partien der Bibel erscheinen besonders bevorzugt, sowohl
für die scheinbaren Haupt- als für die gelegentlichen Parallelstellen : so
aus rein inhaltlichen Gründen der Schöpfungsbericht und die großen
Züge der Erzväter- und der Mosesgeschichte, dann aber audi die
kultisch-gesetzlichen Partien, von den Propheten die letzten apokalyp-
tischen mehr als die übrigen, und vor allem natürlidi die Thronwagen-
54 Die exegetische Methode des Sohar.
Vision Ezechiels, von den Hagiographen nebst den oberwähnten in über-
wiegendem Maße die Psalmen, Hiob, Koheleth und Daniel.
Höchst merkwürdig erscheint die Deutung in Beziehung auf das
Sprachgut der Bibel. Im Grunde verfolgt ja der Sohar überhaupt
den umgekehrten Weg wie sonst ein Kommentar, er geht nur scheinbar
vom Worte, in Wirklichkeit vom Thema, von seinem eigenen Thema aus.
Und während die intellektuelle Methode der Kommentierung den Sinn
des Wortes in Inhalten sucht, erschließt sich der mystischen der heim-
lidie Sinn des Themas in den Tiefen des Wortes. Dieses wird hie und
da mit fast ehrfürchtiger Scheu und in der Regel mit einer Art kind-
licher Liebe behandelt. Denn einer Lehre, für welche Buchstaben und
Laute einer Sphäre angehören, die noch über den Dingen schwebt,
hat das Wort eine andere Geltung als diejenige bloßer Konvenienz,
Begriffssymbolik oder historischer Naturhaftigkeit. Etwas von der Weihe
des einzigen und verborgenen Namens steckt noch in allen Namen, als
welche zuletzt die Worte sich darstellen, etwas von der Urlebendigkeit
des geistigen Kosmos in dem Organismus der Sprache, dessen Wurzeln
nicht einmal erst durch die Wurzeln der Worte, sondern durch deren
Elemente: Laute, Buchstaben und Akzente gebildet werden und dessen
Sprosse und Zweige wunderbar miteinander zusammenhängen. Freilich
wird auch oft Neues mit Altem unhistorisch vermischt, so wenn selbst
den Vokalzeichen und den traditionell beibehaltenen Andersschreibungen
der Massora: Verkleinerungen oder Auslassungen von Buchstaben und
ebenso den erst von späten rabbinischen Autoritäten eingeführten Ton-
zeichen mystisdier Sinn beigelegt wird. So werden z. B. aus dem ver-
doppelten Jod in dem Worte »Wajijzer** des Schöpf ungsberidites die
zwei Triebe. des Mensdien herausgelesen, und das fehlende Waw im
Worte „Leuchten" des vierten Schöpfungstages macht aus den leuch-
tenden Himmelskörpern finstere Mächte. Natürlich liefern die Formen
der Buchstaben, ihre Namen, ihre Stellung im Alphabete ein weites
Feld mandimal ins Spielerische ausartender Deutung, ebenso wie die
aus der älteren Kabbalah übernommene, im Sohar übrigens verhältnis-
mäßig spärlich verwendeten Methoden der Buchstabenpermutationen und
der zahlenmäßigen Berechnungen der Worte.
Unserer heutigen wissenschaftlichen Methodik freilich mag mit ihren
spielerisdien Ausartungen die Methode selbst als veraltet, fremd, wenn
nicht komisch erscheinen. Dennoch gilt audi bezüglich ihrer für den-
jenigen, der tieferen und reineren Sinn, als ihn die Oberfläche bietet.
Die Vieldeutigkeit des Bibeltextes. 55
in uralten Formen finden will, die Forderung Bischoffs, vor Fällung
eines vorschnellen Urteils erst orientalisch umzudenken.
Vor allem ist dem ersten Eindruck der Willkür gegenüber, welchen
manche Deutungen hervorrufen, jene Grundeinstellung zum Bibeltexte
überhaupt geltend zu machen, wonach dieser von vornherein nicht wie
der Text eines modernen wissenschaftlichen Buches eindeutig zu
nehmen ist, weil nicht in eindeutiger Begriffssprache niedergelegt, sondern
vieldeutig, das heißt : im Sinne selber vielgliedrig, gestuft und verzweigt,
oder, wie dies der Sohar ausdrückt, einem Baume gleich, „der Wurzeln,
Rinde, Mark, Zweige, Blätter, Blüten und Samen trägt". Und auch durch
die häufige Bezeichnung der Lehren als „Wege", die von Stufe zu
Stufe, von Region zu Region, von einem „Palaste" zum andern führen
kann uns eine Auffassung nahe gebracht werden, für welche sich im
begrifflichen Inhalt der Sinn jener Lehren überhaupt nicht erschöpfen
kann.
Gelegentlich spricht der Sohar auch von „siebzig Gesichtern" der
Thorah oder er unterscheidet die Abstufungen ihres Sinnes als „Kleid",
„Körper" und „Seele". Und in Bezug auf gewisse Partien der Schrift wird es
geradezu für Blasphemie erklärt, sie bloß ihrem äußerlichen Sinne nach hin-
zunehmen. Wäre es nur auf die simplen Berichte abgesehen, dann wäre es
ja leicht, „eine bessere Thorah zu schreiben". Auch kehrt im Sohar die
talmudische Vierteilung der Deutungsmethoden wieder, von denen „Peschat"
jene nach dem nackten Wortsinn, „Remes" die stereotype Andeutung,
„Derusch" die Allegorie, „Sod" das innere Geheimnis bedeuten. Die
Anfangsbuchstaben dieser vier Wörter ergeben den Namen „Pardes",
das Paradies des tiefen und vollkommenen Verständnisses bezeichnend,
in welchem einer agadistischen Legende nach von vier zusammen
strebenden talmudischen Gelehrten bloß Rabbi Akiba ohne Schaden an
Körper und Seele ein- und auszugehen vermochte, während die drei
übrigen auf dem gefahrvollen Pfade zu Falle kamen.
Natürlich bevorzugt der Sohar selbst die tiefsinnigeren Deutungs-
methoden. Sehr häufig ist sein Verfahren in der schon erwähnten Weise
ein vergleichendes. Und es beruht die Heranziehung von Parallelstellen
entweder auf gegenständlichen oder auf sprachlichen Analogien. Nur hat
man es hiebei in der Regel nicht mit Analogien in gewöhnlichem,
rationalistischem Verstände zu tun, sondern mit solchen Stellen, deren
Sinn erst auf symbolisch erhöhter Ebene zusammentrifft — so auch bei
stereotypen mystischen Umdeutungen z. B. des Wortes „Rose" auf die
/
/
/
56 Tiefere Zusammenhänge der biblisdien Sprache.
„Rose Jakobs", „Mutter" auf die „himmlische Mutter", „Garten" auf
den „Garten Eden" usw. Gewiß erscheinen auf solche Weise manche
Worte und Sätze nicht bloß willkürlich umgedeutet, sondern aus ihren
Zusammenhängen gerissen. Und dennoch treten dann auch wieder an die
Stelle solcher gestörter manchmal tiefere neue Zusammenhänge, vermöge
deren Entlegenes und sonst Beziehungsloses in der Einheit tieferer
Durchdringung verbunden wird. Ähnliches läßt sich auch von sprachlichen
Beziehungen sagen. Wie willkürlich audi manche Wortdeutungen und
Wortbeziehungen seien, so tritt doch immer wieder im Einzelnen die
Tendenz noch tieferer Begrifflichkeit zutage, entsprechend feinerer Homo-
nymik und Synonymik, so wenn zwischen den Wendungen „wajedabber"
(er redete) und „wajomer" (er sprach) noch ein Unterschied gemacht,
das hebräische Wort »Saphir" (dem deutschen gleichbedeutend) mit den
„Sefiroth" oder das Wort „Ben" (Sohn) mit „banoh" (bauen) in Ver-
bindung gebracht, das Wort „Schamajim" (Himmel) aus „Esdi" (Feuer)
und „Majim" (Wasser) zusammengesetzt wird usw. So wird der Sohar
im ganzen von einer vergeistigten Auffassung der Sprache, in ihren
Elementen und ihren Zusammenhängen, beherrscht. Charakteristisch ist
denn auch die hohe Verehrung, welche der hebräisdhen Sprache im Sohar
gezollt wird, indem, wie schon erwähnt, die Schechinah mit ihr auf
besonders innige Weise verbunden erscheint. Und in Bezug auf das
eigentümliche Verhältnis wiederum des Hebräischen zum Aramäischen,
der Sprache der Deutungen und der kodifizierten mündlichen Über-
lieferung, der Sprache des Sohar selbst, mag auf den eigentümlichen
Gedanken eines modernen Hebraisten hingewiesen werden, welcher in
der Geistesgeschichte des Judentums das harte und gewaltige Hebräisch
als mehr männliches, das schmiegsame und detailreiche Aramäisch als
mehr weibliches Sprachelement ansieht.
Und so schließt sich denn auch der Sohar, sowohl was Sprache als
auch was Deutungsmethode betrifft, an den Talmud an. Jene Grund-
auffassung, wonadi die schriftliche Offenbarung nidit bloß der Ergän-
zung durch die mündliche bedürfe, sondern diese auch aus jener her-
auszulesen sei, ist in Talmud und Sohar dieselbe. Und wenn nadi der
ebenso berühmten als in gewissem Grade berüchtigten Methode eines
Rabbi Akiba kein Wort, keine Partikel und kein Budistabe in der
Thorah zu viel oder zu wenig ist und jede anscheinende Seltsamkeit
und Überflüssigkeit nur einen Anreiz bildet, um Verborgenes zu suchen,
so ergeht sich auch der Sohar nur zu häufig in Erörterungen kleinster
Sohar und Talmud. Kabbalah und Agada. Der Jüngerkreis des Simon ben Jochai. 57
Abweichungen von der sprachlichen oder orthographischen Norm. Und
weil er immerhin die Deutungsweise nicht durch äußerliche Tendenzen
der Gesetzesauslegung, sondern zumindest durch die Tendenz geistigeren
Sinnes bestimmt sein läßt, weil ihm jedes Wort der Thorah nicht ein
„Rechtsquell " sozusagen, sondern ein Mittelpunkt ist, „von welchem Lichter
nach allen Seiten strahlen", so gelingt es ihm auch hie und da, „sdiwierigen
Stellen" ebenso wie entlegenen Parallelen überraschend einleuchtenden
Sinn abzugewinnen.
Inhaltlich jedoch scheidet sidi der Sohar ebenso vom halachiscfaen
Elemente des Talmuds, als er sich dem agadischen enge anschließt. Und
wenn auch der Sohar dem ritualgesetzlichen Judentum gegenüber durch-
aus nicht jene revolutionäre Haltung einnimmt, welche der jüdischen
Mystik in verfälschter Auffassung des historischen Tatbestandes hie und
da zugeschrieben wird, indem große Partien desselben die Auslegung
des Ritualgesetzes geradezu zum Hauptthema haben, so ist doch seine
Tendenz der Verinnerlichung, „im Grenzenlosen sich zu finden", jener
der Veräußerlichung und des steten Grenzenziehens durdi das Gesetz
geradezu entgegengesetzt. Andrerseits sind kabbalistische und agadistisch-
midraschische Deutungen und Lehren so nah verwandt, daß in beiden Geist
und Sinn hie und da bis ins einzelnste zusammentrifft und eine Scheidung
fast unmöglidi wird. Kabbalah und Agada erweisen sich dann oft wie
zwei Hauptäste eines Stammes, hier wie dort den schöpferischen Volks-
geist offenbarend, nur nach der einen Seite mehr durch das Medium der
aus dem Dunkel webenden Volksphantasie, auf der anderen mehr durch
das Medium einer ins Dunkle forschenden esoterisdien Gemeinsdiaft.
Und mit dieser letzteren sehen wir uns gerade historisch unmittelbar
in Welt und Zeit des Talmuds versetzt. Denn jener enge Kreis von
Männern, als deren im Grunde anfangs- und endloser Diskurs sich die
Darstellung des Sohar gibt, enthält fast ausschließlich Namen bekannter
rabbinischer Autoritäten, welche ungefähr den letzten Geschlechtern der
Mischnahlehrer (Tanaiten) angehören. Gruppiert um die erhabene Gestalt
des von ihnen sdieidenden Meisters Rabbi Simon ben Jochai,
werden sie in der „Kleinen Versammlung" aufgezählt: Rabbi Abba,
Rabbi Jehudah, Rabbi Josse, Rabbi Chija, Rabbi Isak
und E 1 e a s a r, der Sohn Simons, welche nebst Rabbi Pinchas, dem
Schwiegervater des Meisters, einigen Männern älterer Zeit, auf welche
bloß gewisse Überlieferungen zurückgehen, und nur wenigen anderen
gelegentlichen Teilnehmern der Diskurse in diesen immer wiederkehren.
58 Die Form des Diskurses. Rabbinische Weise als Träjfer der mystischen Lehre.
Wie nun die Form der Darbietung im allgemeinen hier' wie im
Talmud jene des Diskurses ist, so unterscheidet sich die nähere Art
des Diskurses doch wesentlich hier und dort. Während nämlich die
haladiische Gesetzesforsdiung wesentlich auf der Sdiärfe des Verstandes
beruht und auf den hie und da schroff aufeinandertreffenden Gegen-
sätzen der Meinungen, so spielt hier der Scharfsinn der Deutung
eine viel untergeordnetere Rolle. Die Gegensätze, wo sie schon in
Form „anderer Worte" auftreten, sind vielmehr durch die Gemeinsam-
keit innigen Verstehens verbunden, denn das Ziel der esoterisdien
Forsdiung will gar nicht aus den Kräften der Antithese, sondern aus
harmonischer Ergänzung gewonnen werden.
Noch erscheint, gerade im Hinblick auf das historische Problem, ein
Zug höchst bemerkenswert, der einigermaßen an die Darstellung der
Platonisdien Dialoge erinnert: die Anknüpfung an die schlichte Realistik
des Lebens. Die einzelnen Diskurse werden nämlich unzähligemale ein-
geleitet durch den ein kahles Datum ersetzenden Beridit, bei welcher
Gelegenheit dieselben gepflogen wurden. Da sehen wir ein Talmudisten-
paar (am häufigsten Rabbi Chija und Rabbi Isak) auf ihren Wanderungen
von einer palästinensischen Stadt in die andere, wo sich ihnen, wenn sie
besonders tiefe Themen besprechen, die Schechinah gesellt, oder zufällig
in einer Herberge zusammentreffen, ein anderesmal erscheinen die gelehrten
Jünger im Lehrhause oder um ihren Meister versammelt, wir erfahren von
ihrem äußeren und inneren Leben, ihren Kümmernissen und Zweifeln.
Häufig gesdiieht es, daß sich zwei wandernden Gelehrten irgend ein
Fremder, eventuell ein schlichter Lastträger gesellt oder ein Kind, und
die volksberühmten Autoritäten scheuen sich nicht, aus schlichtestem
Munde Lehren der Weisheit zu empfangen. Manchmal auch sehen wir
sie menschlicher Not, die ihnen wie zufällig begegnet, ratend oder lösend
zur Seite stehen. Gerade in solchen knappgehaltenen, realistischen An-
deutungen erfaßt uns oft ein Haudi damaliger palästinensischer Luft, ein
Eindruck von Unmittelbarkeit, der irgendwie auf konkrete Erlebnisse
zurückgehen muß. Und jene rabbinischen Gelehrten, welche sonst hie und
da den Typus des meinungssüditigen, volksfremden, fanatischen Gesetzes-
lehrers darstellen mögen, zeigen sich uns hier von einer ganz anderen
Seite: ununterbrochen beseelt von inniger Weisheitsliebe, in kindlicher
Einfalt der göttlichen Liebe und Heiligkeit hingegeben. Solche Art spiegelt
sich auch in der Darstellung wieder, die auf seltsame Weise in Inhalt
und Form zwischen schlichter Alltäglichkeit und einem wunderbar be-
Schlichtheit und Pathos in der Darstellung. Leben und Leg^ende. 59
schwingten, aber zumeist immer noch schlichten Pathos wechselt — das
besonders bedeutungsvolle Bemerkungen einleitet und in weldies noch
häufiger die trodkene Sprache der Diskurse umschlägt. Und nicht selten
enden diese damit, daß die Gelehrten vor Ergriffenheit weinen oder den
Träger der geistigen Mitteilung umarmen und dem Allerhöchsten für das
Erleben derselben danken.
Und derselbe Übergang wie in solchen Mitteilungen selbst und den
Berichten derselben ist gewissermaßen in Bezug auf die ganze Wirklichkeits-
sphäre derselben zu beobachten, welche auf eine unmittelbare Art vom
AUtäglich-Schliditen an das Legendenhafte grenzt, so besonders in selt-
samen und kleinen, gleichsam symbolisdien Begebenheiten, welche die
Gelehrten auf ihren Wanderungen erfahren, und gelegentlichen geheimnis-
vollen Begegnungen. Dieser Anhaudi des Wunderbaren, der doch niemals
zur voll ausgebildeten Legende wird, konzentriert sich vor allem um die
Gestalt des Simon ben Jochai, dem noch mehr als später dem „heiligen
Löwen" (Rabbi Isak Luria) und dem Stifter des Chassidismus über-
menschliche Macht über Höhen und Tiefen zugeschrieben und der in
diesem Sinne einem Baume verglichen wird, „der in beide Welten reidit".
Und wenn er im Verlaufe des Diskurses auch nur einfach wie die anderen
seine Lehrmeinung vorträgt, so wird er anderseits geradezu zum Vor-
bild mystischer Vollendung erhoben, von dessen irdischem Lebensgange
freilich, der selbst für mystisches Weisheitsleben eine Segenszeit bedeutete,
die Jünger zuweilen nur schon in sehnsuchtsvoller Rückerinnerung sprechen,
während er in der Idra noch den leuchtenden Mittelpunkt seines Jünger-
kreises bildet, dem er sterbend heiligstes Vermächtnis zurückläßt.
Denn, auch was als erzählendes Element die Lehre des Sohar begleitet,
kann schließlidi nur einem Sinn und Ziele dienen; jenen geheimnis-
vollen Pulsschlag fühlen zu lassen, der aus verborgenen Hintergründen
die Lehre erquellen und ihre Träger in ihr leben läßt und der zwischen
den Polen einer sorgfältig gehüteten Offenbarung und eines immer noch
in ehrfürchtigen Fernen sich verbergenden Geheimnisses ein eigen-
tümliches Leben zur Entfaltung bringt.
Wie des jüdischen Volkes geistiges Leben in der Folge der Nieder-
schrift und Verbreitung des Sohar befruditet wurde, erscheint in Bezug
auf die Dokumentierung dieses Lebens in der Einleitung angedeutet.
Nicht bloß wird die Lehre des Sohar Gegenstand tiefster Verehrung und
60 Der Sohar und die spätere jüdische Mystik.
intensiver Forschung und Ausdeutung — ja der Sohartext selbst wird
gelegentlich, den Psalmen ähnlich, in die liturgische Übung aufgenommen
— sie steht auch an der Wiege der beiden späteren, großen, mystischen
Bewegungen des Judentums, die an die Namen IsakLurias und des Israel
Baal-Schem sich knüpfen, von denen der eine seine Lehre geradezu an
den Sohar anschloß, der andere demselben die innigste Verehrung zollte.
Die geographischen Wege des Soharstudiums sind bis zu einem
gewissen Grade zugleich jene des mystisch vertieften Judentums, was jene
zahlreichen kabbalistischen Werke beweisen, die sich nur als Kommen-
tierungen des Sohar geben. Aber nach verschiedenen Richtungen erlag
dieses den Mächten des Widerstandes, der Trägheit und der Unreife, nach
der Seite der ekstatischen Übertreibung, der orthodoxen Erstarrung und
der rationalistischen Verflachung. Die heiße Ekstase pseudo-messianistischen
Schwärmertums enthält nichts mehr jenes stillen Weisheitsglanzes, der
die Grundlehren des Sohar durchleuchtet. Die Gewohnheit mechanisch-
verständnislosen Lernens andrerseits, die bei tiefsinnigen Texten umso
leichter sich einstellt, bedeutet immer wieder ein Ersticken der Mystik in
Orthodoxie. Ein großer Teil des rabbinischen und der größte des modernen
Judentums hingegen hat sich durch scheinwissenschaftliche Aufklärung die
tieferen Quellen des religiösen Lebens überhaupt verschüttet. Und während
noch immer für einen großen Teil des östlichen und vor allem des orienta-
lischen Judentums der Sohar die dritte große Urkunde des Judentums
überhaupt bedeutet, ist derselbe in unäeren Ländern nicht viel mehr als
dem Namen nach bekannt.
Andrerseits aber gipfelt die Charakteristik auch der späteren mystisdien
Bewegungen: sowohl der lurianischen als der chassidischen viel wesent-
licher in den Sphären des Fühlens und WoUens als in jener der
Erkenntnis. Eine „Erneuerung des Judentums" kann, wie dies in unseren
Tagen Martin Buber am lebendigsten erkannt und verkündet hat, der
verborgenen Untergründe des jüdischen Geisteslebens nicht entraten.
Wo diese aber zum Gegenstande bewußter Erkenntnis werden wollen,
da harren auch deren eigene Erkenntniselemente, wie sie uns in den
Grundlehren des Sohar begegnen, der geistigen Wiedererwedcung.
A^L.-C-'Cs ^^'r^^^^
T
Der Sefirothbaum.
C--t./-i>-^«3-2^
1. Kether
2. Chochmah
3. Binah
4. Chessed
5. Din
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6/Tifereth '^'--*l " ^^
ftk-l-x-fc-*.^«. -v-v. I lr^\
7. Nezach "v*c^^^|'
8. Hod " U-<d.jtt-^-*-M^" -■5i,/*.-.^P>:,-r
9. Jessod r-^— '^-+^--'^'
10. Malchuth
Textproben.
I. Fol. 156 a— b.
Vom Schöpfungswerke: Wesensscharen, Wort und Licht.
Die Entsprechung des Unteren und Oberen.
Rabbi Jizchak eröffnete einen seiner Vorträge mit dem Schriftsatze
(Ps. 104, V. 24): „Wie viel sind Deine Werke, Herr, sie alle hast Du
in Weisheit gemacht; voll ist die Erde Deines Eigens." Dieser Satz
wurde schön vielemale gedeutet. Wer denn vermag die Werke des
Allheiligen zu zählen? Wie viele himmlische Heere gibt es und
Scharen, die sonder Zahl sind und alle doch zugleidi und zusammen,
einem Hammer vergleichbar, der zu gleicher Zeit nach allen Seiten
Funken sprüht. Auf dieselbe Weise setzt der Heilige, Er sei gepriesen,
so viele Wesensheere und Scharen in Entstehung, die, eine von der
andern unterschieden, so keine Zahl haben und doch zugleich bestehen.
Merke aber Folgendes : Durch das Wort und durch den Hauch in
einem ward die Welt gemacht. Wie es heißt (Ps. 33, v. 6): „Durch
das Wort des Herrn wurden die Himmel gemacht, durch den Hauch
Seines Mundes all ihr Heer." Das eine geht nicht aus dem Urquell
hervor ohne das andere und beide werden eines durch das andere
vollendet. Und von ihnen gehen aus so viele Heere und Legionen,
Scharen und Unterscharen und alles in der Zeit vereint.
Merke ferner das Folgende : Als der Allheilige daran war, Welten
zu erschaffen, da ließ Er ein verborgenes Licht ausgehen — aus diesem
entspringen all jene Lichter, die offenbar werden. Zunächst entfalten
sich und schaffen sich aus jenem die übrigen Lichter — sie bilden die
obere Welt. Aber jenes höchste Licht breitete sich noch weiter aus
und bildete eine Art von Licht, welches nicht leuchtet — dieses ist
der Urgrund der unteren Welt. Und dieses nicht leuchtende Licht, wie
es der Verbindung mit der oberen Welt bedarf, um zum Leuchten zu
kommen, vermag dies nur durch Vermittlung der unteren Welt. Aus
der Verbindung mit der oberen Welt aber gibt es Entstehung zahlreichen
weiteren Wesensheeren und Scharen, die den höheren dienstbar sind.
Darum heißt es : „Wie viel sind Deine Werke, Herr, sie alle hast Du
in Weisheit gemacht, voll ist (auch) die Erde Deines Eigens". Was auf
der Erde ist, ist auch in der Höhe. Es ist kein noch so geringes
Ding in dieser Welt, das nicht abhängig wäre von einem Wesen, das
64
darüber gesetzt ist. Und wird das untere Ding in Bewegung gebracht,
dann auch jenes obere, das darüber gesetzt ist, denn alles ist wechsel-
seitig mit einander verbunden und geeinigt.
I. Fol. 129 a— b.
Aufstieg, Umkehr und höhere Wohnstätten.
„Und Abraham ward alt und kam in die Tage, und der Herr segnete
Abraham mit allem" (Gen. cap. 24, v. 1). Rabbi Jehudah zog hier den
Schriftsatz heran (Ps. 65, v. 5) : „Heil dem, den Du erwählest und Dir
nahe bringst, er wird in Deinen Höfen wohnen." Dieser Schriftsatz
wurde schon erörtert. Er bedeutet aber insbesondere : Heil dem Manne,
dessen Pfade sich richtig stellen vor dem Allheiligen, und Er hat
Gefallen an ihm, ihn sich selber nahezubringen. Und merke, daß
Abraham dem Herrn erst nahe kam, nachdem ein ganzes Leben lang
seine Sehnsucht danach gegangen war. Selbst Abraham konnte nicht an
einem Tage, in einem Zeitpunkte die Näherung vollziehen, sondern
seine Taten brachten ihn durch die ganze Länge seines Lebens, Stufe
für Stufe, zu größerer Gottesnähe, und erst als er alt war, beschritt er
die höheren Stufen. Und so heißt es : „Und Abraham ward alt"
und dann: „er kam in die Tage", in den Bereich jener Tage nämlich,
welche im Mysterium des göttlichen Zusammenhangs bekannt sind. „Und
der Herr segnete Abraham mit allem", denn aus jenem Bereiche, der
„alles" genannt wird, quellen alle Segnungen und alles Gute.
Noch mehr Heil aber den „Herren der Umkehr", denn diese ver-
mögen sich in einer Stunde, an einem Tage, in einem Augenblicke
dem Allheiligen zu nähern, was selbst den vollkommen Gerechten
versagt ist, wie dem Abraham, der doch hiezu ein ganzes Leben brauchte.
In gleichem Sinne wie von Abraham wird auch von David gesagt:
„Und König David ward alt und kam in die Tage", während der Herr
der Umkehr in einem Augenblicke emporsteigt und dem Heiligen, Er
sei gepriesen, sich anzuschließen vermag.
Rabbi Josse sagte : Wir haben die Überlieferung, daß die Wohnstatt
der Meister der Buße in jener Welt eine solche ist, auf welche auch
die vollkommen Gerechten kein Anrecht haben, weil jene dem Könige
65
näher stehen als alle und die Macht der Liebe mit stärkerer Gewalt auf
sich vereinigen.
Beachte aber wohl, wie viele Stätten der Allheilige in jener Welt bereitet
hält, und überall sind Wohnsitze der Frommen, je nach ihrer Stufe. Und
wenn gesagt wird: „Heil dem, den Du erwählest und Dir nahe bringst,
er wird in Deinen Höfen wohnen", so ist gemeint der Aufstieg jener Seelen
von unten nach oben, um sich mit den ihnen bereiteten Stätten zu ver-
einigen. Und diese Stätten werden als „Deine Höfe" bezeichnet. Welches
aber ist denn die Art dieser Stätten? Dies wird ausgedrückt in dem
Schriftsatze (Secharjah, cap. 3, v. 7) : „Ich werde dir geben Wege des
Wandeins zwischen den dort Beständigen.""' Das ist eine Stufe zwischen
den heiligen Wesen der Höhe. Und welche dieser Stufe gewürdigt sind,
bilden eine Art Sendboten der Herren der Welt, vergleichbar jenen Botenwesen
(Engeln), welche den Willen ihrer Herren beständig erfüllen. Es sind Menschen,
welche immer in Heiligkeit gelebt und sich nicht mit Sünden befledct
haben — denn wer in diesem Leben sich mit Sünden befledct hat, zieht
auch drüben die Geister der Unreinheit an sich, und sein eigener Platz ist
zwischen jenen verunreinigenden Wesen, welche die Schadensgeister der
Welt sind. Denn wie überhaupt des Menschen Anziehung in dieser Welt
ist, so auch seine Wohnstatt und Anziehung in jener Welt. Die sich heiligen
und sich selbst bewahren in dieser Welt, daß ihre Wohnstatt nicht be-
schmutzt werde, deren Platz ist in der anderen Welt zwischen jenen heiligen
Wesen, den ständigen Dienern der Botschaft. Das sind diejenigen, welche
„im Hofe stehen", in dem Sinne, wie vom Hofe der Gotteswohnstatt
gesprochen wird. Es sind aber wiederum andere Wesen, die nicht im Hofe,
sondern im Hause selber wohnen. Von diesen gilt die Fortsetzung obigen
Satzes : ,,Wir wollen uns ersättigen am Gute Deines Hauses."
III. Fol. 11 b — 12 a.
Die zehn Doppelworte.
„Und wenn ein Friedensopfer** seine Darbringung ist ..." (Lev. cap. 3,
V. 1). Hiezu sagte Rabbi Schim'on: Geschrieben steht (Num. cap. 7, v. 86):
* Gewöhnlich übersetzt: zwischen den dort Stehenden.
** Die Mehrzahl im Hebräisdien: „ein Opfer der Frieden" mag- etwa auf die
mehrfachen Verwirklichungen des „Friedens", der ja auch „Vollendung" bedeutet,
innerhalb der Weltgestaltung bezogen werden.
5
66
„Zehn, zehn die Schale an heiliger Wage".* Wozu die Verdopplung des
Wortes zehn? Es soll damit bezeichnet werden: Zehnheit im Werke der
Sdiöpfiing und Zehnheit im Werke der Thorahgebung.** Zehn Worte der
Thorahgebung entsprechen zehn Worten der Sdiöpfung. Das will sagen,
daß die Welt gesdiaffen ist um der Thorah willen, und, solange Israel
sich der Thorah befleißigt, hat auch die Welt Bestand. Und wenn Israel
sich von der Thorah loszumachen sucht, dann ergeht die Mahnung (Jer.
cap. 33, V. 25): „Wäre nicht mein Bund in Tag und Nacht, die Gesetze
des Himmels und der Erde hätte ich nicht gegeben".
Und dieses sind die zweimal zehn Worte: „Ich bin der Ewige, dein
Gott" und dort: „Es w6rde Lidit und es ward Licht . . ." Es ist ein
Preis des Allheiligen, der « Licht" genannt wird, so wie es heißt
(Ps. 27, V. 1): »Gott ist mein Licht und mein Heil, vor wem soll ich
fürditen?"
Sodann : „Nicht seien dir andere Götter vor meinem Angesidit"; Und
dort: „Es sei eine Feste inmitten der Wasser, scheidend zwischen
Wassern und Wassern", Israel selbst ist die Marke der Scheidung als
Erbe des Heiligen, Er sei gepriesen, das an jener Stätte sich hält, die
„Himmel" genannt wird. So fragte einmal Rabbi Jesse Saba den Rabbi
Ila'i* „Alle anderen Völker hat der Heilige, Er sei gepriesen, unter die
Macht erhabener Herrsdierwesen gestellt, welcher Stätte wies Er Israel
zu?" Und jener antwortete: »Mit Israel ist ,Elohim' in der Sdieidung
der Gewässer". Sein Sitz ist also mitten in den Wassern, zwischen den
Worten der Urlehre. So muß es unterscheiden zwischen dem Allheiligen,
weldier genannt ist „Born des lebendigen Wassers", und den Gegen-
ständen des Götzendienstes, welche genannt sind »zerbrochene Brunnen".
Sodann : „Du sollst nicht zum Falschen tragen den Namen des Ewigen,
deines Gottes". Und dort: „Es mögen sich sammeln die Wasser unter
dem Himmel an den Ort jeder Einzelheit". Es ist nämlich, wenn einer
den Gottesnamen zum Falschen wendet, als ob die himmlische „Mutter" von
ihrer Stätte geschieden würde und alle die heiligen „Kronen" dann ihren
Platz nidbt behaupten könnten: wie es heißt (Sprüche, cap. 16, v. 28):
„Wer verleumderisdi spridit, bewirkt Trennung dem Fürsten", der kein
* Die Übersetzung* entspricht der Deutung des Sohar. Im Zusammenhange
lautet der Satz: „Je zehn hat die Schale, am heiligen Schekel gemessen''.
.""" Bezieht sich auf zehn Sätze des ersten Kapitels der Genesis, die mit den
Worten: „Und es sprach Gott" beginnen. Das Wort „Thorahgebung" ist einer Über-
setzung Bubers entnommen und die wörtliche Übertragung des Hebräischen.
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anderer ist, als der Allheilige selbst. Sowie die Wasser durch das
Schöpfungswort an einen Ort kamen, der der Wahrheit entspricht, und
nicht an einen anderen Ort der Lüge. Denn was ist Lüge? Daß die
Dinge nidit an ihren, sondern an einen anderen Ort gebracht werden.
Sodann heißt es: „Denke des Sabbattages, ihn zu heiligen ..." Und
dort: „Es lasse sprießen die Erde sprossendes Kraut ..." Weldies ist
der Tag, an dem der Erde höheres Urbild Fruchtbarkeit und Pracht
empfängt? Der Sabbat, an dem sidi alles mit dem himmlischen König
vereinigt; und davon quillt aus ihm die Macht des Wadistums und des
Segens.
Sodann: „Ehre deinen Vater und deine Mutter". Und dort: „Es
seien Leuchten an der Feste des Himmels . . .", „Dein Vater und deine
Mutter", das sind Sonne und Mond. Die Sonne kein anderer als der
Allheilige selbst, wie es heißt (Ps. 84, v. 12): „Denn Sonne und
Schild ist Gott der Herr". Und der Mond kein anderer als die „Gemein-
schaft Israels", wie es heißt (Jes. cap. 60, v. 20): „Und dein Mond
wird nidit vernichtet werden". Und so geht alles zur Einheit.
Sodann: „Du sollst nicht morden". Und dort: „Es wirren sich die
Wasser mit einem Gewirr belebter Seele . . . Und Gott sdiuf die
Riesenfische". An den Mensdien aber ergeht die Weisung: „Du sollst
nicht töten", denn es heißt (Gen. cap. 2, v. 7): „Es ward der
Mensch* zur belebten Seele". Darum sollt ihr nidit sein wie die
Fische, bei denen die großen die kleinen verschlingen!
Sodann: „Du sollst nicht ehebrechen". Und dort: „Es sprach Gott:
bringe die Erde hervor belebte Seele nadi ihrer Art". Hieraus folgt,
daß der Mensch nicht mit einem anderen Weibe Verkehr pflege. Denn
es heißt: „nach ihrer Art". Wie alle Zeugung nach der Art geschieht, so
soll das Weib gebären nur von ihrer Art, das heißt : von ihrem Gatten.
Sodann: „Du sollst nicht stehlen". Und dort: „Es sprach Gott : siehe,
ich habe euch gegeben alles Kraut, das Samen samt ..." Sowie das
Gegebene euer ist, so sollt ihr nicht Gut eines andern nehmen.
Sodann: „Du sollst nicht als lügnerischer Zeuge aussagen gegen
deinen Nächsten". Und dort: „Es sprach Gott: lasset uns einen Menschen
machen in unserem Bilde ..." Wie der Mensch im Wahrheitsbilde
geschaffen ward, ist, wer gegen einen Menschen lügnerisches Zeugnis
sagt, als täte er es gegen den Himmel.
* Also der schon bestehende Mensch.
5*
68
Sodann : * „Du sollst nicht gelüsten nach dem Weibe deines Nächsten ..."
Und dort (cap. 2, v. 18): Es sprach Gott der Herr: „Nicht gut ist es,
daß der Mensch allein sei ..." So sollst du, dem dein Ehegefährte
gegeben ward, nicht gelüsten nach dem Weibe deines Nächsten.
Auf diese Weise entsprechen denn zehn Worte der Thorahgebung
zehn Worten der Schöpfung. Wie es heißt: „Zehn, zehn, die Schale an
heiliger Wage". Durch dieses Gleichgewicht hat die Welt Bestand und
wird der Friede in ihr verwirklicht. Hierauf beziehen sich auch die
Worte: „Und wenn ein Friedensopfer seine Darbringung ist", auf daß
die Welt durch den Frieden bestehe ...
I. Fol. 71 a.
Der Anfang niederer Furdit.**
Merke Folgendes. Vom Anfange wird gesagt: »Im Ebenbilde Gottes
ersdiuf Er den Mensdien" und wieder: „In Ähnlichkeit Gottes machte
Er ihn". Als sidi aber die Menschen versündigten, verwandelte sich
das Ebenbild, daß es immer unähnlicher wurde dem Urbild. Von da
an ward der Mensch der Furcht der wilden Tiere Untertan. Denn im Anfang
trugen alle Wesen der Welt die Augen aufrecht und vor ihren Blicken
stand das Bild des himmlischen „Heiligen", vor dem allein sie Furcht
und Zittern kannten. Und merke wohl: auch allen jenen Menschen-
kindern, welche nicht sündigen vor dem Herrn und nicht Seine Gebote
übertreten, verbleibt der Abglanz jenes Urbilds ungemindert, und die
anderen Wesen der Welt erfüllt vor ihnen die Furcht. Erst nach der
Versündigung der Menschen geschieht es, daß jenes himmlische Urbild
sich ihnen verwandelt und selbst von ihnen weicht, und dies bewirkt,
daß die Mensdienkinder andere Wesen fürchten können. Denn erst,
wenn die Menschenkinder der Sünde verfallen, können die wilden Tiere
über sie die Herrschaft gewinnen, dieweil sie das göttliche Urbild nicht
mehr an ihm sdiauen.
Nach der Sündflut aber heißt es : „Und Furcht und Zittern vor euch
wird sein." Das heißt: »Von jetzt ab werdet ihr wieder das Bild der
Menschenart tragen".
* Diese Erklärung steht wohl hinter den anderen zurück. Audi ist beim
achten und neunten Gebot die Folge der entsprechenden Schöpfungsworte im
Sohar vertausdit.
** Die Stelle wurde aus Kompositionsgründen in freier Anordnunjg übertragen.
Der Schlußsatz steht im Original an der Spitze.
69
I. Fol. 201 b.
Die höhere Tat.
Rabbi Abba begann seinen Vortrag mit dem Schriftsatze (Sprüche,
cap. 20, V. 5) : „Ein tiefes Wasser ist der Rat im Herzen des Mannes,
aber der Mann der scheidenden Vernunft wird ihn emporschöpfen".
Der erste Teil des Satzes bezeichnet den Allheiligen selbst, denn Er
bereitet den Rat für den Kreislauf der Ereignisse in der Welt. So, wenn
Er um Josefs willen jene Hungersnot über Mizrajim brachte. „Der
Mann der Vernunft" aber, der ihn emporschöpft, ist Josef, der jene
Tiefen enthüllte, die der Allheilige über die Welt gebracht. Auch
merke, daß Josef es sich nicht genügen ließ, seinen Brüdern nicht
Schlimmes zu vergelten, sondern daß er mit ihnen in Güte und Recht
verfuhr — und dies ist immer der Reinen Weise. Darum auch ist der
Herr beständig schirmend über ihnen, so in dieser wie in jener Welt.
Rabbi Abba saß einmal vor einem der Tore von Lydda. Da sah er
einen Menschen kommen, der legte sich in die Höhlung eines Erd-
hügels und schlief, des Weges müde, ein. Während er schlief, kroch
eine Schlange an ihn heran, aber in demselben Augenblick löste sich
ein Baumstumpf vom Boden und fiel auf die Schlange. Der Mann er-
wachte und erblickte vor sich die getötete Schlange. Da trat er aus
der Höhlung heraus, und in dem gleichen Augenblick stürzte die
Dedce jener Höhlung zusammen — und er war gerettet. Da ging
Rabbi Abba zu ihm und fragte ihn: „Was sind deine Taten, daß der
Allheilige zwei Wunder da für dich bereitet hat? Das kann keine
geringe Sache sein." Und jener Mann erwiderte: „Niemals in meinem
Leben hat mir ein Mensch Böses getan, ohne daß ich mich mit ihm
versöhnt und ihm verziehen hätte. Und weiter — wenn keine Gelegenheit
war, mich mit ihm auszusöhnen, so ging ich doch nicht eher schlafen,
als bis ich ihm und allen, die mir Schmerz bereitet, verziehen hatte,
und ich gedachte nicht mehr des mir angetanen Schlimmen. Aber nich t
genug daran: ich bemühte mich von jenem Tage an, da sie mir
Schlimmes zugefügt, ihnen Gutes zu bereiten." Da weinte Rabbi Abba
und sprach: „Höher sind seine Taten als die Josefs. Denn Josef ward
bewegt vom Erbarmen mit jenen, die doch seine Brüder waren. Was
dieser Mann getan, ist also mehr als die Tat Josefs und wert, daß der
AUheilige ihm Wunder über Wunder bereite."
70
I. Fol. 117b -118 a.
Das Budi in der Höhle.
Eines Tages während des Diskurses sagte Rabbi Josse: „Wie lange,
ach, ist es uns nodi bestimmt, in der Verbannung hinzuleben bis zu
jener fernen Zeit ! Und alles hat dodi wieder der Allheilige abhängig
gemacht von der wahren Umkehr, ob die Menschen würdig sein werden
oder nidit. Und so ist der Schriftsatz gemeint (Jesaia, cap. 60, v. 22):
,Zu seiner Zeit — ich werde es beschleunigen.' Sind sie würdig, so
gilt der zweite, wenn nicht, der erste Teil des Satzes."
Dann sagte Rabbi Josse : „In dieser Stunde erinnere ich mich, daß ich
einstmals an dieser Stelle mit meinem Vater saß, als er zu mir sprach:
,Mein Sohn, es ist dir beschieden, wenn deine Jahre sechzig erreichen
werden, an dieser Stelle eine erhabene Urkunde der höheren Weisheit
zu finden.' Und nun ist die Zeit erreicht und idi habe nodi
nichts gefunden, wenn nicht die (vorher) gehörten Worte eben jene
Weisheit bilden. Er sagte aber auch: ,Es wird eine Flamme zwischen
deine Finger streidien, dann wird dir alles wieder entrissen sein.' Und
ich fragte: ,Woran erkennst du dieses, Vater?' Sagte er: ,An diesen
beiden Vögeln, die dein Haupt überschweben.'" Während er aber so
erzählte, fand Rabbi Josse sich plötzlidi vor einer Höhle und erblickte ein
Buch, das war am Ende der Höhle in eine Felsspalte gesteckt. Als er
es hervorzog und öffnete, sah er jene zweiundsiebzig heiligen Buchstaben,
weldhe dem ersten Menschen anvertraut worden waren — denn durch
sie ward ihm Erkenntnis aller Weisheit von den heiligen Wesen der
Höhe und von denen, deren Aufenthalt hinter der „Mühle",* die sich
wälzen unter dem Vorhang der erhabenen Sphären — und erkannte er
alle Dinge, die kommen sollten über die Menschen bis zur Zeit, da eine ,
Wolke vom Westen sich erheben und die Welt verdunkeln wird. Er
rief den Rabbi Jehuda und sie begannen beide in der Urkunde zu
lesen. Es reichte aber nidit, daß sie zwei oder drei Seiten gelesen hätten
von jenen Zeichen und der erhabenen Weisheit inne wurden, und
sie gerieten erst langsam an die Geheimnisse des Buches, und wie sie
so miteinander davon redeten — kam plötzlich eine Flamme und ein
Windstoß, und das Buch war ihren Händen verschwunden. Da weinte
Rabbi Josse und sprach: „Wehe, vielleicht war eine Schuld in uns!
Oder wir sind überhaupt nicht gewürdigt, davon zu wissen!"
* Hiemit sind die den heiligen entgegengesetzten, dämonisdien Wesen
bezeichnet, unter Beziehung auf Exodus, cap. 11, v. 5.
71
Als sie zu Rabbi Schim'on kamen, und ihm erzählten, was ihnen
begegnet, meinteer: „Vielleicht waren es Dinge der Messiaszeit, von denen
euch die Zeichen Kunde gegeben?" Und sie sagten: „Wir wissen es
nicht, denn wir haben alles vergessen!" Da fuhr Rabbi Schim'on fort:
„Nidit ist es der Wille des Allheiligen, daß zu viel der Welt geoffen-
bart werde. Wenn es aber nahe sein wird den Tagen des Messias,
werden kleine Kinder Schätze der Weisheit heben und Ziele und Wege
darin kennen und allen Menschen werden sie offenbar werden. Darauf
bezieht sich der Sdiriftsatz (Zephania, cap. 3, v. 9): „Denn damals
werde ich verwandeln den Völkern die Sprache in eine geläuterte . . ."
Was heißt das: »damals"? Zu jener Zeit, da die Gemeinsdiaft Israels
aus dem Staube erstehen, da der Allheilige sie aufrichten wird. Wie es
heißt: „Idi werde verwandeln den Völkern die Sprache in eine geläuterte,
daß sie alle anrufen werden den Namen des Herrn und Schulter an
Sdiulter Ihm dienen."
I. Fol. 114a— b.
Der Tag des Gerichtes und der Tag der Versöhnung.
Am Neujahrstage, da das Gericht über die Welt ergeht und der
Widersacher die Anklage führt, rafft Israel sich auf im Sdhofar, das ist
in jener Stimme, in der Feuer, Wasser und Luft zur Einheit sich binden.
Und diese Stimme erhebt sich und steigt auf bis zur Thronstätte des
himmlischen Gerichts und erschüttert die Sphären.
Wenn aber diese Stimme von unten kommt, dann erstarkt die Stimme
Jakobs oben, und der Heilige, Er. sei gepriesen, kann Seine Liebe rege
machen. Denn wie Israel unten eine Stimme zur Erweckung bringt,
zusammengefaßt aus Feuer, Luft und Wasser, die geeint aufsteigt aus
dem Schofar, ebenso wird auch oben eines Schofars Stimme erwedct.
Und es erstarkt davon wieder die Stimme, die von unten kommt. So
steigt denn die eine Stimme hinauf und die andere herab, und davon
erstarkt die Welt im Heile und die Liebe wird offenbar.
Jener Ankläger aber, der da glaubte durch das Walten des Gerichts
die Herrschaft zu erringen, gerät in Verwirrung, da er des Erwachens
der Liebe gewahr wird. Verwirrung faßt ihn und er wird ohnmächtig zur
Tat. Erst dann aber kann der Heilige, Er sei gepriesen, die Welt durdi
Liebe richten, denn es hat sich jetzt die Macht der Liebe mit der
Macht des Gerichtes verbunden.
72
Und beachte den Sdiriftsatz : „Stoßet am Neumond in den Schofar,
in der Verhüllung zum Tage unseres Festes !" (Ps. 8l , v. 4). Denn zu dieser Zeit
istjaderMond wirklidi verhüllt, und dann ist die Madit der bösen Schlange
am stärksten und sie kann Schaden der Welt bereiten. Sowie aber die
Liebe wach wird, tritt der Mond wieder hervor und jene Macht gerät
ins Schwinden. Der Widersacher aber kommt in Verwirrung wie ein
Mensdi, der jählings aus dem Schlafe geweckt wird und in den Dingen
seiner Umgebung sich nicht zurechtzufinden vermag.
Am Versöhnungstage aber wird dem Widersacher selber Beruhigung
gegeben durch den Bodc, der ihm geopfert wird, und er verwandelt
sich aus einem Ankläger in einen Verteidiger Israels — nadidem ihn am
Neujahrstage die Verwirrung erfaßt hatte, daß er nichts mehr erkannte und
nichts mehr wirken konnte — denn da sah er das doppelte Erwachen
der Liebe, aufsteigend von unten und herniedersteigend von oben, und
den Mond, der zwischen beiden kam. Und wie er in Verwirrung geriet,
konnte der Heilige, Er sei gepriesen, Israel durch Liebe riditen und
Gnade an ihm üben. Und ebenso erzeigt Er sich die zehn Tage zwischen
dem Neujahrs- und dem Versöhnungstag allen jenen, die zu Ihm zurüde
sich wenden, daß Er sie entsühne von ihrer Sdiuld und aufsteigen lasse
zur Höhe des Versöhnungstags. Es befiehlt aber der Heilige, Er sei
gepriesen, Israel Werke solcher Art, daß über sie die Herrsdhaft nicht
gewinne, der sie nicht gewinnen soll, und daß auch nicht die Macht
des Gerichtes über sie herrsche, sondern daß sie würdig werden auf
der Erde im Maße der Liebe des Vaters zu den Kindern, so in Taten
als in Worten.
III. Fol. 6 a— 6 b.
Der Verstofienen letzte Rückkehr.
Rabbi Acha ging einstmals zusammen mit Rabbi Jehudah. Unterwegs
sagte Rabbi Jehudah: „Der Ausdrück , Jungfrau Israels' bezeichnet nach dem,
was wir gelernt haben, jene Jungfrau, welche siebenfache Segnung erfährt
und darum auch ,Bat-scheba' (Tochter der sieben) genannt wird. Und dies
wird durch viele Schriftstellen belegt. Aus dem gleichen Grunde erhält
audi die Braut bei der Trauungsfeier sieben Segenssprüche. Aber es steht
gesdirieben: ,Und du, o Menschensohn, erhebe Wehklage um die Jung-
frau Israels!' Gewiß ist dies von der Gemeinschaft Israels gesagt. Das
aber ist das Schwierigste, daß gesagt ist (Amos, cap. 5, v. 2): ,Dte
73
gefallen ist, wird sich nicht wieder aufriditen, die Jungfrau Israels.'
Sicherlidi ist die Deutung der Genossen einleuchtend; bedenklidi aber,
daß hier nichts Tröstendes gesagt wird, sondern nur Worte der Klage."
Rabbi Acha erwiderte : „Auch für mich war dies eine Frage sdiwerer
als alle, und ich wandte mich darob an Rabbi Schim'on mit bekümmerter
Miene. Rabbi Sdiim'on sagte zu mir: ,In deinem Antlitz lese ich, was
in deinem Herzen ist', worauf ich entgegnete: ,Weil mein Angesicht
und mein Herz das Gleiche berührt'. Und als er von mir Aufklärung
heischte, sagte idi ihm: ,Es steht geschrieben: Die gefallen ist, wird sich
nicht wieder aufrichten' und setzte hinzu: ,Wenn jemand seiner Gattin
zürnt und sie muß von ihm gehen, wird sie dann nie mehr zu ihm
zurüdkkehren dürfen? Wenn dem so wäre, wehe um die Kinder, die mit
ihr vertrieben sind!' Und er fragte: ,Ist dir die Deutung nicht genug,
die dir alle Genossen gegeben haben?' ,Ich hörte wohl', sagte idi, »diese
Worte, die trösten sollten, sie wollen aber nicht mein Herz beruhigen.'
Und er darauf: ,Was die Genossen gesagt haben, ist alles schön und
entsprechend, aber wehe um ein Geschlecht, das keine Hirten hat und
dessen Schafe ziellos irren! Jener Vers will in seinem Sinne erkannt werden
und ist doch offenbar jenen, die sehend sind auf dem Pfade der Lehre, auf
dem Pfade der Wahrheit. Merke wohl : Jeder Verbannung, in die Israel
geworfen war, war Zeit und Grenze gesetzt, immer konnte Israel zurück-
kehren zum Allheiligen und die ,, Jungfrau Israels" an ihre Stätte, zu
der Zeit, die ihr bestimmt war. Diesmal aber, bei der letzten Ver-
b a n n u n g, ist dem nicht so : diesmal wird die Jungfrau nicht ebenso
zurückkehren wie in anderen Zeiten, und dies ist der Sinn obigen Satzes.
Heißt es doch: „sie wird sich nidit wieder aufrichten", aber nidit: „ich
werde sie nicht wieder aufrichten". Vergleichbar einem König, der seiner
Gattin zürnte und sie für eine gewisse Zeit aus seinem Palaste verstieß.
Als aber die Frist um war, ersdiien die Gattin wieder vor dem König,
und also ein-, zwei- und dreimal. Nachher aber wurde sie aus dem Palaste
des Königs entfernt und verstoßen bis auf eine ferne, unbestimmte Zeit.
Und der König sprach: ,, Diese Zeit ist nicht wie die anderen Zeiten, daß
sie wieder vor mich träte, sondern ich werde gehen mit allen Bewohnern
meines Palastes und von neuem um sie werben." Als er zu ihr kam, fand
er sie im Staube liegen. Wer konnte da nicht die Ehre der Gattin und die
Sehnsucht des Königs, sie wieder aufzunehmen, sehen, wie er sie bei der
Hand faßte, aufrichtete, in seinen Palast einziehen ließ und ihr sagte,
daß er sich ewig nicht von ihr trennen und entfernen werde! So auch
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der Allheilige : so oft die „Gemeinschaft Israels" in der Verbannung war,
konnte sie zu Ihm zurückkehren. Diesmal aber, bei der jetzigen Ver-
bannung, ist dem nicht so, sondern der König wird sie selbst bei der
Hand fassen, sie aufrichten, sie besänftigen und sie in seinen Palast
zurüdkf Uhren. Und merke, daß dies der Satz besagt: „Die gefallen ist,
wird sich nicht wieder aufrichten,, die Jungfrau Israels". Und darum
audi heißt es (Amos, cäp. 9, v. 11): „An jenem Tage werde ich aufrichten
die Hütte Davids, die zu Boden gesunken ist." Nicht s i e wird sich
wieder aufrichten wie in anderen Zeiten, sondern ich werde die Hütte
Davids aufrichten. Wer ist die „Hütte Davids"? Die ,, Jungfrau Israels",
die gefallen ist. Und dies ist Ehre und Ruhm der „Jungfrau Israels".
Das habe ich in jener Stunde gelernt." Darauf sagte Rabbi Jehudah: ,,Du
hast mir zu Herzen gesprochen, und der Gegenstand ist geklärt. Auch
erschien mir dieses Wort wie eines, das idi schon einmal gehört, aber
wieder vergessen und nun neu gewonnen habe. Es sagte nämlich einmal
Rabbi Josse: »Verkünden wird der Allheilige über die Gemeinschaft
Israels und sprechen (Jes. cap. 52, v. 2): „Erhebe dich vom Staube, steh'
auf, Gefangene Jerusalems!" Wie wenn jemand einen Freund an der
Hand nimmt und ihm zuspricht: ,, Erhebe dich", so faßt sie der Allheilige
an der Hand und sagt ihr: „Ermuntere und erhebe didi!" Und Rabbi
Acha sagte: „In dieser Sprache spredien zuerst alle Söhne des könig-
lichen Palastes zu ihr. Und dann heißt es (Jes. cap. 60, v. 1) : ,Steh' auf,
mein Lidit,* denn es ist dein Licht gekommen.' Hier spricht der König
selbst, und dies ist Ehre und Wonne aller, wenn sich der König mit der
Königin versöhnt.
So heißt es audi (Kön. I, cap. 1, v. 15): ,Es kam die Tochter der
sieben (Segnungen) (Bat-Scheba) zum König in das Gemach'. Das war
in jenen Zeiten, da erschien sie vor dem König. ,Sie kam vor den
König und blieb bestehen vor ihm.* Anders wie jetzt, wo der König zu
ihr gehen wird, sich mit ihr versöhnt und er sie in den Palast zurück-
kehren läßt. Darum heißt es: Siehe dein König kommt zu dir — nicht
du zu ihm — dich zu besänftigen, dich aufzurichten, didi zu versöhnen,
dich zu erheben zu seinem Palaste, sich mit dir zu vereinigen für ewig —
wie es auch heißt (Hosea, cap. 2, v. 21): ,Ich angelobe dich mir in
treuer Beständigkeit.'
* Gewöhnlich übersetzt: „steh' auf, leuchte". Beide Auffassungen sind
gleicherweise zulässig.
75
I. Fol. 4a.
Nach dem Tode des Meisters.
Es erzählte Rabbi Josse dem Rabbi Chija heilige Deutungen im Namen
Rabbi Sdiim'ons ben Jochai. „Dem Namen ,Dieses' (Eleh) gesellte sid»
das ,Wer' (Mi) und so entstand der Gottesname ,EIohim*. Aber auch
der Mensdienname »Abraham' entstand, indem dem Namen ,Organ'
(Eber) das ,Was* (Mali) sich gesellte. Und der Name ,Organ' ist
derselbe wie der Name der .Schöpfung' (Bara)*, nur aus offener Laut-
lidikeit zum Abschluß gekommen. So entsprechen sich wieder das .Dieses'
und das ,Organ', beide ein zur Beständigkeit Gelangtes bezeichnend.
Als das eine zur Vollendung kam, kam auch das andere zur Vollen-
dung. Und Er prägte das ,Organ' im Zeichen des ,He', das .Dieses'
im Zeichen des Jod'. Und indem Er die Zeichen in Symmetrie und
Übereinstimmung bradite, entstand der heilige Name. So kamen
zugleich die Namen .Elohim' und .Abraham' zur Vollendung. Es nahm
der Heilige, Er sei gepriesen, das .Mi' und goß es über das .Eleh',
so entstand der Name ,Elohim'. und es nahm der Heilige. Er sei
gepriesen, das .Mah' und goß es über das .Eber', so entstand der
Name .Abraham'.
Denn ehe der Augenblick gekommen war. von dem es heißt (Gen.
cap. 2. V. 4): .Dieses sind die Geschlechterfolgen von Himmel und
Erde, als sie geschaffen wurden', war alles noch unbestimmt sdiwebendes
Sein, erst als der Name .Abraham' ** vollendet wurde, kam auch der
heilige Gottesname zur Vollendung. "
Als Rabbi Chija diese Worte hörte, warf er sich zu Boden, küßte
den Staub der Erde, weinte und sprach: ..Staub, o Staub, wie bist du
hart und von dreister Macht, denn alle Freude der Erde ward durch
dich verschlungen. Alle die leuchtenden Säulen der Welt verzehrest
und zermalmest du. Die ,heilige Leuchte', welche eine Welt erleuchtet
hat, zum mächtigen Herrscheramt erkoren, einer, dessen Verdienst die
Welt in ihrem Bestände hält, wurde von dir verschlungen. Rabbi Schim'on,
du Licht der Leuchte, ewig leuchtendes, selbst du wurdest vom Staube
verschlungen ! Aber dennoch bestehest du ja und führest noch die Welt."
* Dfl'?« = ^ü + T\ha
(SIS)
** Hier wird annrespielt auf die im Sohar mehrfach wiederkehrende Umstellung
des Wortes DNiaro (.als sie geschaffen wurden") in: DniSXÄ („durch Abraham").
76
Dann aber hielt Rabbi Chija staunend einen Augenblidc inne und spradi :
„Staub, o Staub, du wirst didi des nicht rühmen können, denn nicht
werden dir wirklich die Säulen der Welt übergeben, und Rabbi Sdiim'on
wurde nicht von dir versdblungen."
II. Fol. 36 b.
Im Geheimnis der Mitternacht.
Einst gingen Rabbi Chija und Rabbi Josse des Weges zusammen von
Uscha nadi Lydda . . . Als die Nacht hereinbrach, berieten sie, ob sie
in der tiefen Finsternis weiterwandern oder am Wege ruhen sollten,
was auch gefährlich war. Schließlich schlugen sie sich seitwärts von der
Straße, setzten sich unter einen Baum, blieben wachend und sprachen
über Dinge der göttlichen Lehre. Als es aber gerade die Wende der
Nacht war, sahen sie eine Hindin vorüberstreichen, welche mit inbrünstiger
Stimme in die Nacht hinausschrie. Rabbi Chija und Rabbi Josse, da sie
dies hörten, standen sie auf und zitterten. Und sie hörten eine Stimme,
welche also verkündend rief: „Ihr Wachenden, erhebet euch, ihr
Schlafenden, wachet auf! Denn Welten haben sich bereitet, Euern
Herrn zu empfangen, der eben den Garten Eden, Sein Heiligtum,
betreten hat, um mit den Frommen Seine Lust zu haben, wie geschrieben
steht: In Seinem Heiligtum spricht alles Ehre und Majestät" (Ps. 29,
V. 9). Rabbi Chija meinte: „Diesmal ist es wirklich die Wende der
Nacht. Und diese Stimme ist es, welche ausgeht und zu Schmerzen
bringt so die Hindin der oberen als die der unteren Welt, wie es an
der gleichen Stelle heißt : ,Die Stimme des Herrn macht Hindinnen
kreißen'. Glücklich unser Teil, daß wir solches zu hören gewürdigt
worden! Auch merke dies Geheimnis: In der Stunde, da der Heilige,
Er sei gepriesen, den Garten betritt, da sammelt sich aller „Garten"
und ist von „Eden" nicht mehr geschieden. Und von diesem „Eden"
gehen die Quellen aus nach allen Wegen und Pfaden, davon es auch
den Namen „Sammlung^ des Lebens" trägt, denn dort werden verschönt
die Frommen vom Lichte des künftigen Lebens. Und in dieser Stunde
ist es, daß der Allheilige sich offenbart ! Auch wird gesagt : In der
Stunde, da der Allheilige den Garten Eden betritt, um mit den Frommen
Seine Lust zu haben, da ergeht der verkündende Ruf: , .Erwache, Nord,
und komme, Süd, durchwehet meinen Garten, daß seine Düfte fließen.
Denn betreten wird mein Geliebter seinen Garten und seiner köstlichsten
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Frucht genießen." (Hohes Lied, cap. 4, v. 16.) Was bedeuten die Worte:
„er wird seiner köstlichsten Frucht genießen" ? Das sind die Opfer, die
Ihm gebracht werden aus den Seelen der Geläuterten um Mitternacht.
Psalm 19, V. 1—7
nach der Deutung des Sohar (II. Fol. 136 b ff).
Es leuchten im Saphirglanze die Höhen
Des göttlichen Namens
Und machen schöpferisch sprühen
Eis Herrlichkeitsgebiet.
Die Tat Seiner Hände
Macht niederfließen der Scheidung Region
Lichtwesen läßt quellen
Zu Lichtwesen das Wort,
Und Dunkelwesen in Dunkelwesen
Weckt Leben der Erkenntnis.
Hier herrschet die Rede nicht,
Sind noch nicht Dinge —
Noch hört man der Kommenden Stimme nicht.
Doch über die ganze Erde
Zieht ihrer Richtung Gang,
Und von den Enden der Welt
Tönet in Worten der Widerklang.
Dem Sonnen - Erhab'nen
Hat Er in ihnen ein Zelt gesetzt
Und der, wie ein Bräutigam allgeliebt.
Tritt hervor aus himmlischer Hüllung,
Uralt, seit eh' noch der Liebe Grund
Von Gerichtes Macht überdunkelt —
Gewaltigem gleich, dodi ohne Gewalt,
Daß Seinen Weg Er erfülle.
Sein Ursprung kommt von des Höchsten Rand,
Sein Umlauf durch alle Enden,
Nichts birgt sich Seiner liebenden Glut.
78
Kleine Stücke.
III. Fol. 289 a— b. („Idra suta").
Am Bilde des »heiligen Alten" hangt alles Gut aller Dinge. Er wird
»Gestirn des Alls" geheißen. Von Ihm geht alles kostbare Gut aus,
denn nach Ihm halten alle Gestirne, die oberen wie die unteren, den
Blick gerichtet. An diesem Gestirn hangt das Leben aller Dinge, die
Speisung aller Dinge. An Ihm hangen Himmel und Erde, alle Verkör-
perung des Willens.
In diesem. Gestirn liegt die Vorsehung von allem. An Ihm hangen
alle Heerscharen, die oberen und unteren. Und dreizehn Quellen gehen
von Ihm aus in den weiten Weltenraum, die fließen hin zum „Kurz-
gesichtigen".
Tikkunim, 8 b — 9 a.
Meine nicht, daß Ezechiel in seiner Vision die erhabenen Tierwesen
selber sah, sondern immer nur ihr Abbild. Vergleidie es einem König,
der seine Manifeste mit seinem Siegel zeichnet, und nur sein Bild er-
scheint in Wachs geprägt. Und zwar erschaut man in den Sphären der
Emanation das Bild des Königs selber, in den Sphären der Ersdiaffung
das Siegel des Königs, in den Sphären der Gestaltung nur das Abbild
des königlichen Siegels. Und darum heißt es bei den Gesichten Ezediiels :
„das Abbild wie der Anblick des Menschen" und ebenso das „Abbild
der Tierwesen", nicht die Tierwesen selber.
Tikkunim, 2 b.
... So haben es unsere Lehrer hingestellt: „Damals, als das Heiligtum
zerstört wurde, ward aud» über die Häuser der Frommen die Zerstörung
verhängt, und jeder einzelne muß als Unsteter sein Heim verlassen.
Denn es geziemt dem Knechte, seinem Herren gleichzutun."
II. Fol. 202 b.
" Heil dem Menschen, der seinem Gebete die rechte Ordnung weiß.
In solchem Gebete, daran der Allheilige sich erherrlicht, kann Er harren
bis auf die Vollendung von Israels Gebet, daß alles dann, oben und
unten, zur Versöhnung komme. ..
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Außer den Worten des Gebetes aber gibt es Gebote der Tat, die
an die Worte des Gebetes gebunden sind. Und ihrer sind sechs : zum
Ersten, den verehrungswürdigen und schauervollen Namen zu fürchten,
zum Zweiten, Ihn zu lieben, zum Dritten, Ihn zu segnen, zum Vierten,
Ihn zu einen, zum Fünften, daß der Priester das Volk segne, zum
Sechsten, Ihm die Seele hinzugeben.
III. Fol. 288 a— b. („Idra Suta").
Drei Häupter sind geprägt, eines im andern, eines über dem andern.
Ein Haupt verhüllte Weisheit, die gänzlich sich verbirgt und nie sich
offenbaren kann. Und diese verborgne Weisheit ist Haupt den Häuptern
aller übrigen Weisheit. Das oberste Haupt : der heilige Alte, der Ver-
borgene aller Verborgenen — Beginn* alles Beginnes, Beginn, der
kein Beginn ist, nicht erkennend und nicht erkannt, der sich noch nicht
verband mit Weisheit und mit scheidender Vernunft. Darauf gehen die
Worte (Num. cap. 24, v. 11): „Fliehe an deine Stätte" und die fol-
genden (Ezech. cap. 1, v. 14): „Und die Tierwesen enteilen und kehren
wieder." Und darum wird der heilige Alte auch „Nichts" genannt, denn
an Ihm haftet nichts mehr. Und alle jene Tore und alle jene Saiten
gehen aus vom verborgenen Marke, und alles geglättet im Gleichgewicht.
II. Fol. 97a.
Es ist ein Geheimnis der Weisen : Innerhalb eines mächtigen Felsens
in entrückter. Himmelssphäre gibt es einen Palast, der ist Palast der Liebe
geheißen. Dies ist die Stätte, wo die köstlichsten Schätze sich
bergen, die Stätte der Liebesküsse des Königs. Denn die vom
König geliebten Seelen gehen dort ein. Und wenn der König jenen
Palast betritt, davon heißt es (Gen. cap. 29, v. 11): ,,Und Jakob
küßte die Rachel." Dort findet der Allheilige die geheiligte Seele, faßt
sie bei der Hand und küßt und liebkost sie und läßt sie zu sich steigen
und spielt mit ihr — gleichwie ein Vater seiner Lieblingstochter tut.
Und wenn es heißt (Jesaia, cap. 64, v. 3) : „Der die Tat vollbringt
dem Sein Harrenden" — sowie jene „Tochter" in dieser Welt ihre
Tat zur Vollendung bringt, so der Allheilige die andere Tat in der
künftigen Welt. Davon heißt es : ,,Kein Auge sah einen Gott außer Dir,
der die Tat vollbringt dem Sein Harrenden."
* «Beginn" und „Haupt" sind im Aramäischen gleichwie im Hebräischen durch
dasselbe Wort bezeidinet.
Einige den Sohar betreffende Literaturwerke.
Übertragung^en und Darstellungen.
Knorr von Rosenroth: Kabbaladenudata,!. Sulzbach, 1677, II. Frankfurt a.M., 1684.
Sommer, Gottfried Christoph: Specimen theologiae Soharicae. Gotha, 1734.
Beer, Peter : Geschichte, Lehren und Meinungen aller Sekten d. Juden. Brunn, 1822.
Tholuck, A.: Wichtige Stellen des rabbinischen Buches Sohar. Berlin, 1824.
Franck, Adolphe: La Kabbale. Paris, 1843.
„ „ Die Kabbala und die Religionsphilosophie der Hebräer.
Deutsch von Ad. Jellinek, Leipzig, 1844.
Landauer M. H.: »Vorläufiger Bericht über meine Entdeckungen in Ansehung
des Sohar" und Nachtrag hiezu. Literaturblatt des Orients, 1845.
Joel, D. H. ; Die Religionsphilosophie des Sohar. Leipzig, 1849.
Jellinek, Ad.: Moses de Leon und sein Verhältnis zum Sohar. Leipzig, 1851.
Beiträge zur Geschichte der Kabbala. Leipzig, 1852.
Molitor, Franz Josef: Philosophische Geschichte der jüdischen Tradition.
Münster, 1857.
Stern, Ignaz : Versuch einer umständlichen Analyse des Sohar.
„Ben Chanänja", Monatsschrift für jüd. Theologie. I. bis III. Jahrgang,
1858 bis 1860.
Misses, Isak : Darstellung und kritische Beleuchtung der jüdischen Geheimlehre.
Krakau, 1862/1863.
Bloch, Philipp: Die jüdische Mystik und Kabbala in J. Winter und Aug.
Wünsche: Die jüdische Literatur seit Abschluß des Kanons. III.
Trier, 1896.
Karppe, S. : Etudes sur les origines et la nature du Zohar. Paris, 1901.
Papus: La Cabbale. Tradition secrete de roccident. Paris, 1903. Deutsch von Nestle.
Leipzig, 1908.
Sepher ha - Sohar: Doctrine esoterique des Israelites. Traduit par Jean de
Pauly. 6 Bde. Paris, 1906 bis 1912.
Seilin, A. W.: Die geisteswissensdiaftliche Bedeutung des Sohar. Berlin, 1913.
Bischoff, Erich: Elemente der Kabbala. (Geheime Wissenschaften.)
I. Theoretische Kabbala. II. Praktische Kabbala. Berlin, 1913—1914.
Gelbhaus, S.: Die Metaphysik der Ethik Spinozas im Quellenlichte der Kabbala.
Wien, 1917.
Bergmann, Hugo: Die Heiligung des Namens. Im Jahrbuch »Vom Judentum".
Leipzig, 1913, und in „Jawne und Jerusalem". Berlin, 1919.
Einzelne Soharstellen im Jahrbuch „Vom Judentum" (Bergmann, Müller) sowie
in den Zeitschriften „Der Jude", 1916 — 1920 (Müller, Seidmann) und
„Freie Lehrerstimme", 1919 (Fiebig).
Seidmann, Ja nkew: Aus dem heiligen Buche Sohar. Eine Auswahl. Berlin, 1920*.
* Während der Drucklegung ersdiienen.
Für die verständnisvolle Förderung der zeichnerischen
Textergänzung sei Fräulein Maria Spira hiemit
herzlichst gedankt.
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorwort 3
Motto i .4
Einleitung 5
Der äußere Rahmen des Budies 5
Sein Ursprung 5
Gliederung', Ausgaben und Kommentare, Name des Budies ...... 8
Ein Blick auf die Entwicklung der Kabbala bis zum Chassidismus .... 9
Lehre des Sohar 14
Das Gotteswerk 14
Letzte Höhen. Der Sefirothbaum als Weltorganismus. Prinzipien der
Polarität und des Gleichgewichtes. Das Wesen des Bösen. Mannigfache
Symbolik. Die vier W^elten. Einheit, Dreiheit und Vielheit im Göttlichen.
Der Messias
Das Reich des Menschen 28
Makrokosmischer und mikrokosmischer Sinn des Menschen. Dreiheit
der Seele. Das Ich als göttliches Zentrum. Der Mensdh als Wahrheits-
wesen. Geistig -kosmisdier Urgrund der Ethik. Geistige Beleuchtung
des menschlichen Lebens. Die Entsprechung des Oberen und Unteren.
Heiligung und Höhen des Menschen. Der Begriff des „Zaddik".
Der Bund Israels 41
Israel und die Menschheit. Der Sinn der biblischen Gesdiichte. Aus-
erwähltheit und Exil. Der Organismus des religiösen Lebens. Der Sabbat
als höchstes Lebenssymbol. Apokalyptisches. Wege des Weltenheils.
Buch und Leben 52
Der Sohar als Bibelkommentar. Formelemente des Textes und exegetische
Methode. Geheimnisse des Bibelwortes, Kabbalah und Agada. Tal-
mudische Weise als Träger der mystischen Oberlieferung. Poetisches und
Legendenhaftes. Verhältnis der späteren jüdischen Mystik zum Sohar.
Textproben 63
Vom Schöpfungswerke: Wesenssdiaren, Wort und Licht 63
Die Entsprechung des Unteren und Oberen 63
Aufstieg, Umkehr und höhere Wohnstätten 64
Die zehn Doppelworte 65
Der Anfang niederer Furcht 68
Die höhere Tal 69
Das Buch in der Höhle 70
Der Tag des Gerichtes und der Tag der Versöhnung 71
Der Verstoßenen letzte Rückkehr . 72
Nach dem Tode des Meisters 75
Im Geheimnis der Mitternacht 76
Psalm 19, V. 1 — 7, nach der Deutung des Sohar 77
Kleine Stücke 78
Einige den Sohar betreffende Literaturwerke 81
j«i« " » n »i nn « n >ii» m i »■i» n « n » n »'i«ii<ii» n > n «ii»ii«.—«f«^.i«i.t»«.<.»«..».»»n«.^..o..«.iti»»<-»tii»n«.»a»'a«'«nC"0"«— '»»«■»
» — . . ... . _ _ *
} Eine Anthologie jüdischer Lyrik
Meir Wiener
1 Die geistliche Lyrik der Juden
Erster Band:
Die Lyrik der Kabbalah
Eine Anthologie
?
Als weitere Bände werden folgen :
Zweiter Band:
Religiöse Lyrik des jüdischen Mittelalters
Dritter Band :
jadische Gebete und Hymnen
Das jüdisch-mystisdie Erlebnis, das in der diditerisch inspirierten
f Sprache der religiösen Lyrik seinen intensivsten Ausdruck gefunden hat,
f erscheint in diesem Bande dem Leser nahegebracht. Kein pedantischer |
* Philologe, ein schöpferischer Nachdichter, der Inhalt und Wesen !
i seiner Vorlagen, von allen Nebensächlichkeiten befreit, vielfach zum |
I ersten Male in deutscher Sprache nachbildet, erschließt hier ein neues |
I Geistesgebiet von ungeahntem Reichtum. Eine ebenso originelle als |
f tiefgründige Einleitung ebnet den Weg in die fremde Gedankenwelt. ?
I 4
* _, f
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\ R. Löwit Verlag / Wien — Leipzig i
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